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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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»Aber mitte Wehen war Schluß denn...«
    Es wird Doktor Richter gewesen sein, der zwei Wöchnerinnen mit Säuglingen und Mutter, unterstützt von der Stationsschwester, übers rutschige Sonnendeck hat führen lassen, worauf die drei Frauen in ein Boot gesetzt wurden, das bereits ausgeschwenkt in den Davits hing. Mit einer anderen Schwangeren und einer Frau, die eine Fehlgeburt hinter sich hatte, soll er wenig später in einem der letzten Boote - offenbar ohne Stationsschwester Helga - Platz gefunden haben.
    Mutter sagte mir, daß sich bei immer stärkerer Schlagseite eines der 3-cm-Flakgeschütze vom Achterdeck aus den Halterungen gelöst habe, über Bord gestürzt sei und ein schon abgefiertes Rettungsboot, das voll besetzt war, zerschmettert habe. »Das is glaich neben ons passiert. Son Glick ham wiä jehabt...«
    Also verließ ich in Mutters Leib das sinkende Schiff. Unser Boot legte ab und gewann, umgeben vom Treibgut noch Lebender und schon Toter, einige Distanz zur sich neigenden Backbordseite des Schiffes, dem ich jetzt, bevor es zu spät ist, gerne die eine oder andere Story abgewinnen würde. Zum Beispiel die vom allseits beliebten Bordfriseur, der seit Jahren die immer seltener werdenden silbernen Fünfmarkstücke gesammelt hatte. Nun sprang er mit prallem Säckchen am Hosenbund in die See, um sogleich, beschwert vom Gewicht der Silberlinge... Aber ich darf keine weiteren Stories erzählen.
    Jetzt wird mir geraten, mich kurz zu fassen, nein, mein Arbeitgeber besteht darauf. Da es mir ohnehin nicht gelinge, das tausendmalige Sterben im Schiffsbauch und in der eisigen See in Worte zu fassen, ein deutsches Requiem oder einen maritimen Totentanz aufzuführen, solle ich mich bescheiden, zur Sache kommen. Er meint, zu meiner Geburt.
    Noch war es nicht soweit. In jenem Boot, in dem Mutter ohne Eltern und Fluchtgepäck, aber mit gebremsten Wehen saß, hatten alle Insassen aus wachsendem Abstand, und sobald eine Welle sie hob, den Blick frei auf die mit bestürzender Schlagseite sinkende Wilhelm Gustloff. Da der Suchscheinwerfer des seitab in schwerer See Position haltenden Begleitschiffes immer wieder die Brückenaufbauten, das verglaste Promenadendeck und das schräg nach steuerbord aufragende Sonnendeck streifte, erlebten diejenigen, die sich in das Boot gerettet hatten, wie einzelne und zu Knäueln gefügte Menschen über Bord gingen.
    Und nahbei sah Mutter und sahen alle, die sehen wollten, Treibende in ihren Schwimmwesten, unter ihnen noch Lebende, die laut oder matt um Hilfe riefen, um Aufnahme in die Boote flehten, und andere, die, bereits abgestorben, Schlafenden glichen. Aber schlimmer noch, sagte Mutter, sei es den Kindern ergangen: »Die sind alle falsch runterjekommen vom Schiff, mittem Kopp zuerst. Nu hingen se in die dicken Schwimmwülste mitte Beinchen nach oben raus...«
    Und sobald Mutter später, etwa von den Gesellen ihrer Tischlereibrigade oder von einem ihrer zeitweiligen Bettgenossen, gefragt wurde, wie sie als junge Frau zu weißen Haaren gekommen sei, sagte sie: »Das is passiert, als ech all die Kinderchens koppunter jesehn hab...«
    Mag sein, daß erst hier oder schon hier der Schock gewirkt hat. Als ich ein Kind und Mutter Mitte zwanzig war, hat sie ihr kurzgeschnittenes Weißhaar wie eine Trophäe zur Schau gestellt. Denn sobald sie danach befragt wurde, kam etwas zur Sprache, das im Arbeiter- und Bauern-Staat kein zugelassenes Thema war: die Gustloff und ihr Untergang.
    Aber manchmal und eher beiläufig vorsichtig hat sie auch von dem sowjetischen U-Boot und den drei Torpedos erzählt, wobei Mutter jedesmal gestelztes Hochdeutsch bemühte, sobald sie den Kommandanten von S 13 und seine Männer »die uns Werktätigen freundschaftlich verbundenen Helden von der Sowjetmarine« nannte.
    Um die Zeit, als nach Mutters Zeugnis ihr Haar auf einen Schlag weiß wurde - das mag gut eine halbe Stunde nach den Torpedotreffern gewesen sein -, verhielt sich die Besatzung des abgetauchten Unterseebootes still und erwartete Wasserbomben, die aber ausblieben.
    Kein sich näherndes Schiffsschraubengeräusch. Nichts von der Dramatik, die an Szenen in U-Bootfilmen hätte erinnern können. Doch hörte der Bootsmaat Schnapzew, dessen Aufgabe es war, Außengeräusche mit seinen Kopfhörern zu registrieren, welche Laute der Leib des sinkenden Schiffes von sich gab: Rumoren, sobald sich Maschinenblöcke aus Verankerungen lösten, einen Knall, wenn nach kurzem Ächzen die Schotten unterm Wasserdruck brachen, und

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