Im Krebsgang
Promenadenverglasung die Panzerglasscheiben zerborsten.
Was aber im Schiffsinneren geschah, ist mit Worten nicht zu fassen. Mutters für alles Unbeschreibliche stehender Satz »Da hab ech kaine Töne fier...« sagt, was ich undeutlich meine. Also versuche ich nicht, mir Schreckliches vorzustellen und das Grauenvolle in ausgepinselte Bilder zu zwingen, sosehr mich jetzt mein Arbeitgeber drängt, Einzelschicksale zu reihen, mit episch ausladender Gelassenheit und angestrengtem Einfühlungsvermögen den großen Bogen zu schlagen und so, mit Horrorwörtern, dem Ausmaß der Katastrophe gerecht zu werden.
Das hat der Schwarzweißstreifen mit Bildern versucht, die in Filmstudios vor Kulissen entstanden. Man sieht drängende Masse, verstopfte Gänge, den Kampf um jede Treppenstufe aufwärts, sieht verkleidete Komparsen als Eingeschlossene im verschlossenen Promenadendeck, ahnt die Schlagseite des Schiffes, sieht, wie das Wasser steigt, sieht im Schiffsinneren Schwimmende, sieht Ertrinkende. Und Kinder sieht man im Film. Kinder, von ihren Müttern getrennt. Kinder, an der Hand die baumelnde Puppe. Kinder, verirrt in bereits geräumten Gängen. In Nahaufnahme die Augen vereinzelter Kinder. Doch die über viertausend Säuglinge, Kinder und Jugendlichen, für die es kein Überleben gab, waren,
allein aus Kostengründen, nicht zu verfilmen, blieben und bleiben abstrakte Zahl, wie all die anderen in die Tausende, Hunderttausende, Millionen gehenden Zahlen, die damals wie heute nur grob zu schätzen waren und sind. Eine Null am Ende mehr oder weniger, was sagt das schon; in Statistiken verschwindet hinter Zahlenreihen der Tod.
Ich kann nur berichten, was von Überlebenden an anderer Stelle als Aussage zitiert worden ist. Auf breiten Treppen und schmalen Niedergängen wurden Greise und Kinder totgetreten. Jeder war sich der Nächste. Fürsorgliche versuchten, dem Tod zuvorzukommen. So wird von einem Ausbildungsoffizier gesagt, er habe in der ihm zugeteilten Familienkabine zuerst seine drei Kinder, dann die Ehefrau, schließlich sich selbst mit der Dienstpistole erschossen. Gleiches wird von Parteigrößen und ihren Familien erzählt, die in jenen Sonderkabinen Schluß machten, die einst Hitler und dessen Gefolgsmann Ley zugedacht waren und nun der selbsttätigen Liquidierung Raum boten. Anzunehmen ist, daß Hassan, der Hund des Korvettenkapitäns, gleichfalls und zwar von seinem Herrn erschossen wurde. Auch mußte auf dem vereisten Sonnendeck von Schußwaffen Gebrauch gemacht werden, weil der Befehl »Nur Frauen und Kinder in die Boote!« nicht befolgt wurde, weshalb sich überwiegend Männer gerettet haben, was nüchtern und kommentarlos die alles Leben abschließende Statistik bewiesen hat.
Ein Boot, das über fünfzig Personen Platz geboten hätte, hat man übereilt, besetzt von einem knappen Dutzend Matrosen nur, zu Wasser gelassen. Ein anderes Boot kippte, weil zu hastig gefiert und nur noch an der Vorderleine hängend, alle Bootsinsassen in die bewegte See und stürzte dann, als die Leine riß, auf jene, die im Wasser trieben. Nur das Rettungsboot Nummer vier soll, zur Hälfte mit Frauen und Kindern belegt, nach Vorschrift abgelassen worden sein. Da die Schwerverwundeten aus dem Laube genannten Notlazarett ohnehin verloren waren, versuchten Sanitäter, einige Leichtverwundete in Booten unterzubringen: vergeblich.
Selbst die Schiffsleitung war nur noch auf sich bedacht. Berichtet wird von einem ranghohen Offizier, der seine Frau aus der Kabine aufs Oberdeck geholt und auf dem Achterdeck begonnen hatte, die Halterungen einer Motorpinasse, die zu KdF-Zeiten bei Norwegenfahrten als Ausflugsboot benutzt wurde, zu enteisen. Als es ihm gelang, endlich die Pinasse auszuschwingen, funktionierte - ein Wunder - die elektrische Winde. Beim Abseilen vom Bootsdeck erblickten die im Promenadendeck eingesperrten Frauen und Kinder durch die Panzerglasscheiben das nur halb besetzte Boot; und die Insassen der Pinasse sahen einen Augenblick lang, welche Masse Mensch sich hinter der Verglasung staute. Man hätte sich zuwinken können. Was im Schiffsinneren weiterhin geschah, blieb ungesehen, kam nicht zu Wort.
Ich weiß nur, wie Mutter gerettet wurde. »Glaich nachem letzten Bums jingen bai mir die Wehen los...« Sobald sie, als ich ein Kind war, davon erzählte, glaubte ich, eine lustige Abenteuergeschichte zu hören: »Na, ond denn hat miä der Onkel Dokter schnell ne Spritze verpaßt...« Vor dem »Pieks« habe sie richtig Angst gehabt.
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