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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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weiteren undefinierbaren Lärm. All das meldete er seinem Kommandanten mit halber Stimme.
    Da mittlerweile der in Ausstoßrohr zwei steckende und Stalin gewidmete Torpedo entschärft worden war und im Boot absolute Stille verordnet blieb, nahm der Maat mit den Kopfhörern, außer dem, was das absterbende und für ihn namenlose Schiff laut werden ließ, nur entfernt das Schraubengeräusch des mit langsamer Fahrt sich bewegenden Geleitbootes auf. Von dort ging keine Gefahr aus. Menschliche Stimmen hörte er nicht.
    Es war das Torpedoboot, das mit gedrosselter Maschinenkraft Position hielt und von dessen umlaufender Reling aus mit Fangleinen Lebende und Tote, die im Wasser trieben, aufgefischt wurden. Da die einzige Motorjolle vereist war, zudem deren Motor nicht ansprang, konnte sie nicht eingesetzt und bei den Rettungsversuchen behilflich werden.
    Einzig mit Leinen wurde geborgen. An die zweihundert Überlebende kamen auf diese Weise an Bord.
Als die ersten der wenigen Rettungsboote, die sich von dem zögerlich kenternden Schiff lösen konnten, im Lichtkegel des Suchscheinwerfers die Löwe anliefen, wurde es schwierig, bei immer noch hochgehender See anzulegen. Mutter, die in einem der Boote saß, sagte: »Mal hat ons ne Welle janz hoch jehoben, so daß wiä auf die Leewe runtergucken jekonnt ham, ond mal warn wir im Keller ond die Leewe hoch ieber ons...«
Nur wenn das Rettungsboot auf Höhe der Reling des Torpedobootes war, während Sekunden also, gelang es Mal um Mal, einzelne Schiffbrüchige zu übernehmen. Wem der Sprung mißlang, der geriet zwischen die Boote, blieb weg. Doch Mutter kam mit Glück an Bord eines Kriegsschiffes von nur 768 Tonnen Wasserverdrängung, das im Jahr achtunddreißig vom Stapel einer norwegischen Werft gelaufen, auf den Namen Gyller getauft, in norwegischen Dienst gestellt und nach der Besetzung Norwegens im Jahr vierzig als Beute von der deutschen Kriegsmarine übernommen worden war.
Kaum hatten zwei Matrosen des Begleitschiffes mit Vorgeschichte Mutter über die Reling gehievt, wobei sie ihre Schuhe verlor, sie dann in eine Decke gewickelt und in die Kajüte des diensthabenden Maschinenoffiziers geführt, setzten die Wehen abermals ein.
    Wünsch dir was! Ich will nicht ablenken, wie mir jemand unterstellen könnte: aber lieber als von Mutter auf der Löwe geboren, wäre ich jenes Findelkind gewesen, das sieben Stunden nach dem Schiffsuntergang von dem Vorpostenboot VP 1703 geborgen wurde.
    Das geschah, nachdem weitere Rettungsschiffe, allen voran das Torpedoboot T 36, dann die Dampfer Gotenland und Göttingen die wenigen Überlebenden im Wellengang zwischen Eisgrütze, einzelnen Eisschollen und vielen leblos Treibenden an Bord geholt hatten.
    Dem Kapitän des Vorpostenbootes waren in Gotenhafen die »SOS«-Rufe, die der Funker der Löwe fortlaufend sendete, gemeldet worden. Sofort war er mit seinem schrottreifen Kahn ausgelaufen und hatte ein Leichenfeld vorgefunden. Dennoch ließ er immer wieder mit dem Bordscheinwerfer die See ableuchten, bis der Lichtkegel ein wie unbemannt treibendes Rettungsboot einfing. Der Obermaat Fick wechselte über und fand neben den erstarrten Leichen einer Frau und eines halbwüchsigen Mädchens ein hartgefrorenes Wolldeckenbündel, das, an Bord des VP 1703, gebracht, von der obersten Eisschicht befreit, dann aufgerollt wurde, worauf jener Säugling ans Licht kam, der gerne ich gewesen wäre: ein elternloses Findelkind, der letzte Überlebende der Wilhelm Gustloff.
    Der auf dem Vorpostenboot in dieser Nacht zufällig diensttuende Flottillenarzt fühlte den matten Pulsschlag des Säuglings, begann mit Belebungsübungen, wagte eine Kampferspritze und ließ nicht nach, bis das Kind, ein Junge, die Augen aufschlug. Er schätzte den Säugling auf elf Monate und trug alle wichtigen Einzelheiten, das Fehlen des Namens und die unbekannte Herkunft, das ungefähre Alter, den Tag und die Stunde der Rettung und den Namen und Rang des Retters auf einer behelfsmäßigen Urkunde ein.
    Das hätte mir gepaßt: nicht, wie geschehen, am fatalen 30. Januar geboren zu sein, sondern Ende Februar, Anfang März vierundvierzig in irgendeinem ostpreußischen Kaff, an einem nicht zu benennenden Tag, von einer Mutter Unbekannt, gezeugt vom Vater Gibtesnicht, doch adoptiert vom rettenden Oberbootsmaat Werner Fick, der mich bei
    nächster Gelegenheit - das geschah in Swinemünde - seiner Ehefrau in Obhut gegeben hätte. Mit meinen sonst kinderlosen Adoptiveltern wäre ich, als der

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