Im Krebsgang
abgenabelt, lag auch ich still. Als der Kapitän als Zeuge des Untergangs ordnungsgemäß den Zeitpunkt im Bordbuch vermerkt hatte, begann die Besatzung des Torpedobootes wiederum, Überlebende aus der See zu fischen.
Aber das stimmt alles nicht. Mutter lügt. Bin sicher, daß ich nicht auf der Löwe... Die Uhrzeit war nämlich... Weil schon, als der zweite Torpedo... Und bei den ersten Wehen Doktor Richter keine Spritze, sondern gleich die Geburt... Ging glatt. Geboren auf schräger, rutschender Pritsche. Alles war schräg, als ich... Nur schade, daß Doktor Richter nicht Zeit fand, auch noch die Urkunde: geboren am, an Bord von, mit genauer Zeitangabe handschriftlich... Jadoch, nicht auf einem Torpedoboot, sondern auf dem verfluchten, auf den Blutzeugen getauften, vom Stapel gelassenen, einst weißglänzenden, beliebten, kraftdurchfreudefördernden, klassenlosen, dreimal vermaledeiten, überladenen, kriegsgrauen, getroffenen, immerfort sinkenden Schiff wurde ich aus Kopf- und in Schräglage geboren. Und mit dem abgenabelten Säugling, der gewickelt und in Schiffseigner Wolldecke verpackt wurde, ist Mutter dann, gestützt auf Doktor Richter und Stationsschwester Helga, ins rettende Boot.
Aber sie will keine Niederkunft auf der Gustloff. Lügt sich zwei Matrosen zusammen, die mich in der Kajüte des Maschinenoffiziers abgenabelt haben. Dann wieder soll es der Doktor gewesen sein, der aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht an Bord des Torpedobootes war. Selbst Mutter, die sonst alles mit Bestimmtheit weiß, schwankt in ihrer Meinung und läßt, außer den »zwai Mariners« und dem »Onkel Dokter, der mir auffe Justloff noch ne Spritze verpaßt hat«, einen weiteren Geburtshelfer aktiv werden: der Kapitän der Löwe, Paul Prüfe, soll mich abgenabelt haben.
Da ich meine Geburtsversion, die, zugegeben, eher eine Vision ist, nicht belegen kann, halte ich mich an die von Heinz Schön überlieferten Fakten, nach denen Doktor Richter nach Mitternacht von dem Torpedoboot übernommen wurde. Erst dann ist er bei der Geburt eines anderen Kindes tätig geworden. Sicher bleibt aber, daß der Bordarzt der Gustloff nachträglich meinen Geburtsschein, datiert auf den 30. Januar 1945, wenn auch ohne genaue Uhrzeit, ausgestellt hat. Zu meinem Vornamen jedoch hat mir Kapitänleutnant Prüfe verholfen. Mutter will darauf bestanden haben, daß ich Paul, »jenau wie der Käpten vonne Leewe«, und unvermeidbar mit Nachnamen Pokriefke heißen sollte. Später haben mich die Jungs in der Schule und bei der FDJ, aber auch Journalisten aus meinem Bekanntenkreis »Peepee« gerufen; und mit P Punkt P Punkt unterzeichne ich meine Artikel.
Der Junge übrigens, der zwei Stunden nach meiner Geburt, also am 31. Januar, auf dem Torpedoboot geboren wurde, hieß fortan auf Wunsch seiner Mutter und des rettenden Schiffes wegen mit Vornamen »Leo«.
Über all das, meine Geburt und über Personen, die auf dem einen oder anderen Schiff dabei geholfen haben sollen, wurde im Internet nicht gestritten; auf der Website meines Sohnes kam ein Paul Pokriefke nicht einmal in Abkürzung seines Namens vor. Absolutes Schweigen über alles, was mich betraf. Mein Sohn sparte mich aus. Online existierte ich nicht. Doch ein weiteres Schiff, das im Augenblick des Untergangs oder Minuten danach, begleitet vom Torpedoboot T 36, die Unglücksstelle erreichte, der Schwere Kreuzer Admiral Hipper, löste ein später global ausfransendes Gezänk zwischen Konrad und seinem Widersacher, der sich David nannte, aus.
Tatsache ist, daß die Hipper, gleichfalls überbelegt mit Flüchtlingen und Verwundeten, nur kurz gestoppt, dann aber abgedreht hat, um weiter Richtung Zielhafen Kiel zu fahren.
Während sich Konny als Marineexperte ausgab und die vom Begleitschiff signalisierte UBootgefahr als ausreichenden Grund für das Abdrehen des Schweren Kreuzers wertete, hielt David dagegen: Die Hipper hätte zumindest einige ihrer Motorbarkassen aussetzen und für andauernden Rettungsdienst freistellen müssen. Außerdem seien durch die Wendemanöver des immerhin zehntausend Tonnen verdrängenden Kriegsschiffes, die mit voller Kraft in unmittelbarer Nähe der Unglücksstelle verliefen, eine Vielzahl in der See treibende Menschen in den Sog des Heckwassers geraten; nicht wenige seien von den Schiffsschrauben zerstückelt worden.
Mein Sohn jedoch gab vor, genau zu wissen, daß das Ortungsgerät des HipperBegleitschiffes nicht nur U-Bootgefahr ausgemacht habe, vielmehr sei T 36 zwei
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