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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Krieg zu Ende war, vorerst in die britische Besatzungszone, in die zerbombte Stadt Hamburg gezogen. Doch ein Jahr später hätten wir in Ficks Heimatstadt Rostock, die in der sowjetischen Besatzungszone lag und gleichfalls zerbombt war, dennoch Wohnung gefunden. Ab dann wäre ich zwar parallel zu meiner an Mutter gebundenen Biographie aufgewachsen, hätte alles, das Fähnchenschwenken der Jungen Pioniere, die Aufmärsche der FDJ mitgemacht, wäre aber doch von den Ficks umsorgt geblieben. Das hätte mir gefallen können. Gehätschelt von Vater und Mutter, wäre ich als das Findelkind, dessen Windeln nichts über seine Herkunft hatten aussagen wollen, in einem Plattenbauareal groß geworden, hätte Peter und nicht Paul geheißen, wäre als Schiffsbaustudent später von der Rostocker Vulkan-Werft übernommen worden, hätte als Konstrukteur einen bis zur Wende sicheren Arbeitsplatz gehabt und wäre, fünfzig Jahre nach meiner Rettung, beim Treffen der Überlebenden im Ostseebad Damp allein und als Frührentner oder mit meinen alt gewordenen Adoptiveltern dabeigewesen, von allen Teilnehmern des Treffens gefeiert, vorgezeigt auf der Bühne: das Findelkind von dazumal.
    Irgendwer, von mir aus die verfluchte Vorsehung, war dagegen. Kein Fluchtweg stand offen. Durfte nicht als namenlose Fundsache überleben. Bei günstiger Bootslage wurde, wie es im Bordbuch hieß, Fräulein Ursula Pokriefke, hochschwanger, vom Torpedoboot Löwe übernommen. Sogar die Uhrzeit vermerkt: Zweiundzwanzig Uhr fünf. Während in der aufgewühlten See und im Schiffsinneren der Gustloff der Tod weiterhin seinen Gewinn einstrich, lag Mutters Niederkunft nichts mehr im Wege.
    Diese Einschränkung muß stehenbleiben: Meine Geburt war nicht einzigartig. Die Arie »Stirb und werde« hatte mehrere Strophen. Denn zuvor und danach kamen Kinder ans Licht. Etwa auf dem Torpedoboot T 36 sowie auf dem spät eingetroffenen Dampfer Göttingen, einem Sechstausendtonnenschiff des Norddeutschen Lloyd, das im ostpreußischen Hafen Pillau zweieinhalbtausend Verwundete und mehr als tausend Flüchtlinge, unter ihnen an die hundert Säuglinge, an Bord genommen hatte. Während der Fahrt wurden fünf weitere Kinder geboren, ein letztes kurz bevor das im Geleit fahrende Schiff ein kaum noch von Hilferufen belebtes Leichenfeld erreichte. Doch im Augenblick des Untergangs, zweiundsechzig Minuten nach den Torpedotreffern, kroch einzig ich aus dem Loch.
    »Auf die Minute jenau als die Justloff absoff«, wie Mutter behauptet, oder wie ich sage: Als die Wilhelm Gustloff mit dem Bug voran und bei extremer Schlagseite nach backbord hin zugleich sank und kenterte, wobei von allen Oberdecks rutschende Menschen und gestapelte Flöße, alles, was keinen Halt mehr fand, in die aufschäumende See stürzte, als, auf die Sekunde genau, wie auf Befehl aus dem Nirgendwo, noch einmal die seit den Torpedotreffern erloschene Schiffsbeleuchtung inwendig, sogar auf den Decks ansprang und - wie in Friedens- und KdF-Zeiten - jedem, der Augen hatte, zum letzten Mal Festbeleuchtung bot, als alles ein Ende fand, soll ich ganz normal in der engen Koje des Maschinenoffiziers geboren worden sein; aus Kopflage und ohne Komplikationen, oder wie Mutter sagte: »Das jing wie nix. Ainfach rausjeflutscht biste...«
    Sie hat von alldem, was draußen außerhalb der Koje geschah, nichts mitbekommen. Weder die Festbeleuchtung des kenternd sinkenden Schiffes noch den Absturz in sich verknäulter Menschentrauben vom zuletzt aufragenden Heck. Doch soll ich, nach Mutters Erinnerung, mit meinem ersten Schrei jenen weithin tragenden und aus tausend Stimmen gemischten Schrei übertönt haben, diesen finalen Schrei, der von überall herkam: aus dem Inneren des absackenden Schiffsleibes, aus dem berstenden Promenadendeck, vom überspülten Sonnendeck, dem rasch schwindenden Heck und von der bewegten Wasserfläche aufsteigend, in der Tausende lebend oder tot in ihren Schwimmwesten hingen. Aus halbvollen und überfüllten Booten, von engbesetzten Flößen, die von Wellen gehoben wurden, in Wellentälern verschwanden, von überall her stieg gebündelt der Schrei auf und steigerte sich mit dem plötzlich einsetzenden, dann jäh erstickten Heulen der Schiffssirene zu grauenhafter Zweistimmigkeit. Ein nie gehörter, ein kollektiver Endschrei, von dem Mutter sagte und weiterhin sagen wird: »Son jeschrai kriegste nich mehr raus aussem Jehör...«
Die Stille danach soll nur noch von meinem Gequengel irritiert worden sein. Kaum

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