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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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vormals für auf Ferienreise geschickte Hitlerjungen und BdM-Mädel bestimmt. Gedrängt hocken und liegen sie. Noch halten die Frisuren. Aber kein Lachen mehr, keine netten oder spitzzüngigen Klatschgeschichten. Einige leiden unter Seekrankheit. Dort und überall auf den Gängen der anderen Decks, in den einstigen Fest- und Speisesälen riecht es nach Erbrochenem. Die für die Masse der Flüchtlinge und Marineangehörigen ohnehin zu wenigen Toiletten sind verstopft. Die Ventilatoren schaffen es nicht, mit der verbrauchten Luft den Gestank abzusaugen. Seit Auslaufen des Schiffes tragen auf Befehl alle die ausgeteilten Schwimmwesten, doch legen, der zunehmenden Hitze wegen, viele ihre zu warme Wäsche und auch die Schwimmwesten ab. Leise quengeln Alte und Kinder. Keine Lautsprecherdurchsagen mehr. Alle Geräusche gedämpft. Ein ergebenes Seufzen und Wimmern. Ich stelle mir keine Untergangsstimmung, wohl aber deren Vorstufe, sich einschleichende Angst vor.
    Nur auf der Kommandobrücke soll, nach ausgetragenem Streit, die Stimmung einigermaßen hoffnungsvoll gewesen sein. Die vier Kapitäne glaubten, mit dem Erreichen der Stolpebank die größte Gefahr hinter sich zu haben. In der Kabine des Ersten Offiziers wurde eine Mahlzeit gelöffelt: Erbsensuppe mit Fleischeinlage. Danach ließ Korvettenkapitän Zahn vom Steward Cognac servieren. Man sah Anlaß, auf eine vom Glück begünstigte Fahrt anstoßen zu dürfen. Zu Füßen seines Herrn schlief der Schäferhund Hassan.
    Als Wachoffizier war nur Kapitän Weller auf der Brücke. Indessen war die Zeit abgelaufen.
    Von Kindheit an kenne ich Mutters Satz: »Ech war glaich janz wach, als es zum ersten Mal jebumst hat ond denn nochmal ond nochmal...«
Der erste Torpedo traf tief unter der Wasserlinie den Bug des Schiffes, dort, wo die Mannschaftsräume lagen. Wer auf Freiwache war, Stullen kaute oder in seiner Koje schlief und die Explosion überlebte, kam dennoch nicht davon, weil Kapitän Weller gleich nach der ersten Schadensmeldung alle Schotten zum Vorschiff automatisch schließen ließ, um ein schnelles Sinken über den Bug zu verhindern; die Notmaßnahme »Schottenschließen« war kurz vor Auslaufen des Schiffes geübt worden. Zu den aufgegebenen Matrosen und kroatischen Freiwilligen zählten viele, die während Übungen auf das geordnete Besetzen und Fieren der Rettungsboote vorbereitet worden waren.
Niemand weiß, was in dem abgeschotteten Vorschiff plötzlich, verzögert, endgültig geschah.
Gleichfalls ist mir Mutters anschließender Satz eingeprägt geblieben: »Baim zwaiten Bums binnech aussem Bett jefallen, so schlimm war der...« Dieser Torpedo aus Rohr drei, der auf glatter Oberfläche die Aufschrift »Für das sowjetische Volk« als Widmung trug, detonierte unterm Schwimmbad auf dem E-Deck des Schiffes. Nur zwei oder drei Marinehelferinnen überlebten. Später sprachen sie von Gasgeruch und von Mädchen, die durch die Splitter des zerborstenen Glasmosaiks an der Stirnwand des Bades und von den Kacheln des Schwimmbeckens in Stücke gerissen wurden. Auf dem schnell steigenden Wasser habe man Leichen und Leichenteile, belegte Brote und sonstige Reste vom Abendessen, auch leere Schwimmwesten treiben sehen. Kaum Geschrei. Dann sei das Licht weggewesen. Die zwei oder drei Marinehelferinnen, von denen mir keine paßbildkleinen Fotos vorliegen, konnten sich vorerst durch einen Notausgang retten, hinter dem eine Eisentreppe steil zu den höher gelegenen Decks führte.
Und dann sagte Mutter noch: »Baim dritten Bums erst« sei Doktor Richter bei den Wöchnerinnen und Schwangeren gewesen. »Da war schon der Daibel los!« rief sie jedesmal, sobald ihre Endlosgeschichte auf »Nummer drai« kam.
Der letzte Torpedo traf mittschiffs den Maschinenraum. Nicht nur die Schiffsmotoren fielen aus, auch die Innenbeleuchtung auf den Decks und die sonstige Technik. Alles weitere geschah im Dunkeln. Allenfalls erlaubte die Minuten später anspringende Notbeleuchtung einige Orientierung im Chaos der ausbrechenden Panik innerhalb des zweihundert Meter langen und zehn Stockwerke hohen Schiffes, von dem keine SOS-Rufe über Funk abgegeben werden konnten: auch die Geräte im Funkraum waren ausgefallen. Nur vom Torpedoboot Löwe ging wiederholt der Ruf in den Äther: »Gustloff sinkt nach drei Torpedotreffern!« Zwischendurch wurde die Lage des sinkenden Schiffes gefunkt, endlos, über Stunden: »Position Stolpmünde. 55 Grad 07 Nord - 17 Grad 42 Ost. Erbitten Hilfe...
« Auf S 13 wurden die

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