Im Krebsgang
Dampfern einige Minensuchboote und ein Torpedofangboot, zum Schluß VP 1703, von dem das Findelkind gerettet wurde.
Danach rührte sich nichts mehr. Abgefischt wurden nur noch Tote. Die Kinder, Beine nach oben. Schließlich beruhigte sich die See über dem Massengrab.
Wenn ich jetzt Zahlen nenne, stimmen sie nicht. Alles bleibt ungefähr. Außerdem sagen Zahlen wenig. Die mit den vielen Nullen sind nicht zu fassen. Sie widersprechen sich aus Prinzip. Nicht nur ist die Anzahl aller Personen an Bord der Gustloff über Jahrzehnte hinweg schwankend geblieben -sie liegt zwischen sechstausendsechshundert und zehntausendsechshundert -, auch mußte die Zahl der Überlebenden immer wieder korrigiert werden: von anfangs neunhundert auf schließlich tausendzweihundertneununddreißig.
Ohne Hoffnung auf Antwort stellt sich die Frage: Was zählt ein Leben mehr oder weniger?
Sicher ist, daß überwiegend Frauen und Kinder den Tod fanden; in peinlich deutlicher Mehrheit wurden Männer gerettet, so alle vier Kapitäne des Schiffes. Petersen, der bald nach Kriegsende starb, sorgte als erster für sich. Zahn, der in Friedenszeiten Geschäftsmann wurde, verlor nur seinen Schäferhund Hassan. Gemessen an der Zahl von grobgeschätzt fünftausend ertrunkenen, erfrorenen, auf Schiffstreppen totgetretenen Kindern, fallen die vor und nach dem Unglück gemeldeten Geburten, darunter meine, kaum ins Gewicht; ich zähle nicht.
Die meisten Überlebenden wurden in Saßnitz auf Rügen, in Kolberg und Swinemünde ausgeschifft. Nicht wenige der Wenigen starben während der Fahrt. Eine Anzahl Lebender und Toter mußte nach Gotenhafen zurück, wo die Lebenden auf Transport mit weiteren Flüchtlingsschiffen warten mußten. Seit Ende Februar war Danzig umkämpft, brannte nieder, entließ Flüchtlingsströme, die sich bis zuletzt auf den von Dampfern, Fährprähmen und Fischkuttern belegten Kaianlagen stauten.
Das Torpedoboot Löwe legte am frühen Morgen des 31. Januar im Hafen von Kolberg an. Mit Mutter und ihrem Wickelkind, das Paul hieß, ging Heinz Köhler von Bord. Er war
einer der vier zerstrittenen Kapitäne des untergegangenen Schiffes und hat seinem Leben - kaum war der Krieg zu Ende - den Schlußpunkt gesetzt.
Die Schwachen, Kranken und alle mit Erfrierungen an den Füßen wurden von Sanitätskraftwagen abgeholt. Typisch Mutter, daß sie sich zu den Gehfähigen zählte. Wann immer der erste Landgang Episode ihrer Endlosgeschichte war, sagte sie: »Dabai hatt ech nur Strimpfe anne Fuß, bis miä ne Oma, die selber Flichtling war, paar Schuhe aussem Koffer raus jeschenkt hat. Die saß auffem Bollerwagen am Straßenrand ond hat janich jewußt, wo wir her sind ond was wir durchjemacht haben alles...«
Das mag stimmen. Der Untergang des einst beliebten KdF-Schiffes wurde im Reich nicht bekanntgegeben. Solche Nachricht hätte der Durchhaltestimmung schaden können.
Nur Gerüchte gab es. Aber auch das sowjetische Oberkommando fand Gründe, den Erfolg des Unterseebootes S 13 und seines Kommandanten nicht im täglichen Rotbannerflottenbericht zu veröffentlichen.
Es heißt, Alexander Marinesko sei nach seiner Rückkehr in den Hafen Turku enttäuscht gewesen, weil man ihn nicht gebührend als Helden gefeiert habe, obgleich er während fortgesetzter Feindfahrt ein weiteres Schiff, den einstigen Ozeandampfer General von Steuben, mit zwei Torpedotreffern versenkt hatte. Das geschah aus den Heckrohren am 10.
Februar. Der Fünfzehntausendtonner, der von Pillau weg mit über tausend Flüchtlingen und zweitausend Verwundeten - schon wieder diese abgerundeten Zahlen - unterwegs war, sank in sieben Minuten über den Bug. Etwa dreihundert Überlebende wurden gezählt. Ein Teil der Schwerverwundeten lag dicht bei dicht auf dem Oberdeck des schnell sinkenden Schiffes. Mit ihren Pritschen rutschten sie über Bord. Diesen Angriff hatte Marinesko, auf Gefechtstiefe abgetaucht, mit Blick durchs Sehrohr gefahren.
Dennoch zögerte das Oberkommando der baltischen Rotbannerflotte, den doppelt erfolgreichen Kapitän nach dem Einlaufen seines Bootes in den Stützpunkthafen zum »Helden der Sowjetunion« zu ernennen. Das Zögern dauerte an. Während der Kapitän und seine Besatzung vergeblich auf das traditionelle Festessen - ein gebratenes Ferkel, viel Wodka
- warteten, ging der Krieg an allen Fronten weiter und näherte sich an der pommerschen Front der Stadt Kolberg. Vorerst blieben Mutter und ich dort in einer Schule einquartiert, von der sie später zu mir auf Langfuhrsch
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