Im Krebsgang
gesagt hat: »Wenigstens jemütlich warm warres da. Ond ne olle Schulbank mit Klappdeckel is daine Wieje jewesen. Hab miä jedacht, main Paulchen fängt frieh schon an, flaißig zu lernen...«
Als die Schule nach Artillerietreffern unbewohnbar wurde, fanden wir in einem Kasemattengewölbe Unterkunft. Kolberg hatte als Stadt und Festung einen in der Historie wurzelnden Ruf. Von ihren Wällen und Bastionen aus war zur Zeit Napoleons Widerstand geleistet worden, weshalb auf Betreiben des Propagandaministeriums ein Durchhaltefilm namens »Kolberg« mit Heinrich George in der Hauptrolle und weiteren Ufa-Größen gedreht wurde. Dieser Farbfilm ist in allen noch nicht zerbombten Kinos des restlichen Reiches gezeigt worden: Heldenkampf gegen Übermacht.
Nun, Ende Februar, wiederholte sich Kolbergs Geschichte. Bald waren Stadt, Hafen und Seebad von Einheiten der Roten Armee und einer polnischen Division eingeschlossen.
Unter Artilleriebeschuß begann der Abtransport der Zivilbevölkerung und der die Stadt überfüllenden Flüchtlinge auf dem Seeweg. Wiederum großes Gedränge auf allen Kaianlagen. Mutter jedoch weigerte sich, jemals wieder an Bord eines Schiffes zu gehen.
»Selbst wennse miä mit nem Knippel jepriegelt hätten, wär ech nich rauf auf son Kahn...
« sagte sie, sobald jemand wissen wollte, wie sie damals mit Säugling aus der belagerten und brennenden Stadt herausgekommen sei. »Na, ain Loch find sich immer«, hieß ihre Antwort. Jedenfalls hat Mutter auch später, selbst bei Betriebsausflügen auf dem Schweriner See, kein Schiff mehr betreten.
Mitte März wird sie sich, mit einem Rucksack und mir beladen, durch die russischen Stellungen geschlichen haben; es kann aber auch sein, daß die russischen Posten mit der jungen Frau und ihrem Säugling ein erbarmendes Einsehen hatten, uns einfach laufen ließen. Wenn ich mich hier, im Moment abermaliger Flucht, als Säugling bezeichne, stimmt das nur eingeschränkt: Mutters Brüste gaben nichts her. Die Milch wollte nicht einschießen. Auf dem Torpedoboot half eine der ostpreußischen Wöchnerinnen aus; sie hatte mehr als genug. Danach war es eine Frau, die unterwegs ihren Säugling verloren hatte. Und auch später - solange die Flucht dauerte und länger - habe ich immer wieder an fremder Brust gelegen.
Um diese Zeit waren alle Städte entlang der pommerschen Küste entweder vom Feind besetzt oder gefährdet: Stettin eingeschlossen, noch hielt sich Swinemünde. Weiter östlich waren Danzig, Zoppot, Gotenhafen gefallen. Zur Küste hin hatten Einheiten der 2. Sowjetischen Armee bei Putzig die Halbinsel Hela abgeriegelt, und weiter westlich, an der Oder, war bereits Küstrin umkämpft. Das Großdeutsche Reich schrumpfte allseits. Wo Rhein und Mosel zusammenfließen, befand sich Koblenz in amerikanischer Hand. Doch war endlich die Brücke von Remagen zusammengebrochen. An der Ostfront meldete die Heeresgruppe Mitte weitere Frontrücknahme in Schlesien und die immer kritischer werdende Lage der Festung Breslau. Zu alldem hörten die Angriffe amerikanischer und britischer Bomberverbände auf große und mittlere Städte nicht auf. Während zur Freude des englischen Luftmarschalls Harris die Ruinen der Stadt Dresden noch rauchten, fielen Bomben auf Berlin, Regensburg, Bochum, Wuppertal... Die Dämme von Stauseen waren wiederholt Ziel. Und überall hin, doch mit Drang von Ost nach West, zogen Flüchtlinge und wußten nicht, wo bleiben.
Auch Mutter hatte kein bestimmtes Ziel, als sie mit mir, ihrem wichtigsten Gepäckstück, das immerfort greinte, weil ihm Muttermilch mangelte, aus Kolberg herausfand, dann zwischen die Frontlinien geriet, nachts auf Teilstrecken in Güterwagen oder in WehrmachtsKübelwagen ein Stück vorankam, oft jedoch zu Fuß zwischen anderen, die mit immer weniger Gepäck unterwegs waren, auf den Beinen blieb, dabei nicht selten flach unter Tieffliegerbeschuß lag, immer weg von der Küste wollte und - stets auf der Suche nach Müttern mit überschüssiger Milch - sich bis nach Schwerin durchschlug. Sie hat mir ihren Fluchtweg mal so, mal so erzählt. Eigentlich wollte sie weiter, über die Elbe nach Westen, aber wir sind in der unzerstörten Hauptstadt des Reichsgaus Mecklenburg hängengeblieben. Das war Ende April, als der Führer Schluß mit sich machte.
Später, als Tischlergesellin und umgeben von Männern, sagte Mutter, nach ihrem Fluchtweg befragt: »Ech könnt euch Romane erzähln. Am schlimmsten warn die Flieger, wennse janz tief ieber ons weg
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