Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
Vom Netzwerk:
wenn sich Gelegenheit fände, seinem Freundfeind David vor dessen Abreise - nicht nur online - zu begegnen: »Wir sollten uns kennenlernen, bißchen beschnuppern, möglichst bald...«
Sogar einen Treffpunkt schlug er vor, ließ aber das Datum der erwünschten Begegnung offen. Dort, wo einst im Ehrenhain der Granit überragend seinen Standort gehabt habe und wo heute so gut wie nichts an den Blutzeugen erinnere, weil Grabschänder Stein und Ehrenhalle abgeräumt hätten, genau dort, wo in nicht allzu ferner Zukunft wiederum ein Gedenkstein aufgerichtet werden müsse, an geschichtsträchtiger Stätte solle man sich treffen.
Sofort begann wieder Streit. David war zwar für eine Begegnung irgendwo, aber gegen ein Treffen an verfluchtem Ort. »Absolut spreche ich mich gegen deinen revisionistischen Geschichtsrelativismus aus...« Mein Sohn haute auf die gleiche Pauke: »Wer die Geschichte seines Volkes vergißt, ist ihrer nicht wert!« Dem stimmte David zu. Danach nur noch Albernheiten. Sogar Witze erzählten sie sich. Einer - »Was ist der Unterschied zwischen EMail und Emil?« - blieb leider ohne Pointe. Stieg zu früh aus.
    Bin wiederholt dort gewesen. Zuletzt vor wenigen Wochen, als wäre ich der Täter, als müßte ich immer wieder an den Tatort zurück, als liefe der Vater dem Sohn nach.
Von Mölln aus, wo weder Gabi noch ich Worte fanden, nach Ratzeburg. Von dort fuhr ich über Mustin, ein Dörfchen, hinter dem früher samt Todesstreifen die Grenze verlief und die Straße sperrte, in östliche Richtung. Noch immer ist die alte Bepflanzung der Chaussee mit Kastanienbäumen auf gut dreihundert Meter unterbrochen: links rechts kein Baumbestand. Zu ahnen bleibt, wie tiefgestaffelt sich der Arbeiter- und Bauern-Staat bemüht hat, sein Volk abzusichern.
Nachdem ich den hinterlassenen Kahlschlag hinter mir hatte, breitete sich beiderseits der nun wieder baumbestandenen Chaussee Mecklenburgs weitflächiges Ackerland bis zu den Horizonten hin. Kaum gewellt, wenig Waldfläche. Vor Gadebusch nahm ich die neugebaute Umgehungsstraße. Vorbei an Baumärkten, Einkaufszentren, den Flachbauten der Autohändler, die mit schlapp hängenden Fahnen versuchten, die Konjunktur zu beleben. Wilder Osten! Erst kurz vor Schwerin, nun auf von kleinwüchsigen Bäumen gesäumter Chaussee, wurde die Gegend hügelig. Ich fuhr zwischen größeren Waldstücken und hörte Drittes Programm: Klassik auf Wunsch.
Nach rechts bog ich dann auf der 106 in Richtung Ludwigslust ab, näherte mich der in mehreren Abschnitten hochgezogenen Plattenbausiedlung Großer Dreesch - einst von fünfzigtausend DDR-Bürgern bewohnt - und parkte meinen Mazda im Bauabschnitt drei, direkt neben dem Lenin-Denkmal in einer Biege, die die Gagarinstraße abschließt. Das Wetter hielt sich. Es regnete nicht. Mittlerweile saniert und mit pastellfarbenen Tönen ansehnlich gemacht, standen die Wohnblöcke in Reihe.
Jedesmal wenn ich Mutter besuche, bin ich erstaunt, daß diese einem estländischen Bildhauer riesengroß geratene Bronze immer noch steht. Zwar guckt Lenin in Richtung Westen, doch ist ihm keine zielweisende Geste gegönnt worden. Beide Hände in den Manteltaschen, wie ein Spaziergänger, der sich eine Pause erlaubt, steht er auf der niedrigen Sockelplatte, deren mit Granit verkleidete untere Stufe im linken Eck gleichfalls in Bronze gefaßt ist. Die in den Guß eingelassene Inschrift erinnert in Großbuchstaben an einen revolutionären Beschluß: »DAS DEKRET ÜBER DEN BODEN«. Nur vorne zeigt Lenins Mantel Farbspuren einer nichtssagend gesprayten Inschrift. Wenig Taubenmist auf den Schultern. Seine zerknautschte Hose ist sauber geblieben.
Ich hielt mich nicht lange in der Gagarinstraße auf. Mutter wohnt im zehnten Stock mit Balkon und Aussicht auf den nahen Fernsehturm. Um ihren immer zu starken Kaffee kam ich nicht herum. Nach der Renovierung der Plattenbauwohnungen sind die Mieten erhöht worden, erträglich, wie Mutter meint. Darüber, nur darüber haben wir gesprochen. Sonst blieb nicht viel zu sagen. Auch wollte sie nicht wissen, was mich, außer dem Kurzbesuch bei ihr, in die Stadt der vielen Seen geführt habe: »Fiehrers Jeburtstag bestimmt nich!« Das Datum meiner Anreise ließ das Ziel erahnen, hörte ich doch, schon in der Tür - und nachdem ich mir einen Blick in Konnys Zimmer versagt hatte -, ihren Kommentar: »Was willste da. Das hilft nu och nischt mehr.«
Über die Hamburger, vormals Lenin-Allee, fuhr ich Richtung Zoo, dann Am Hexenberg lang und

Weitere Kostenlose Bücher