Im Krebsgang
ratatata... Aber immer Schwain jehabt. Sag ech ja, Unkraut verjeht nich!«
Womit sie bei ihrem eigentlichen Thema, dem fortwährend sinkenden Schiff war. Alles andere zählte nicht. Selbst die Enge in unserem nächsten Notquartier - wiederum eine Schule
- war für Mutter nicht der Klage wert, zumal sie inzwischen wußte, daß sie mit ihrem Paulchen in einer Stadt Zuflucht gefunden hatte, in der jener Mann geboren wurde, nach dem das Unglücksschiff während scheinbar friedlicher Zeit benannt worden war.
Überall stand sein Name. Sogar die Oberschule, in die man uns einquartiert hatte, hieß nach ihm. Als wir nach Schwerin kamen, war er, wohin man auch guckte, namentlich anwesend. So stand am Südufer des Sees noch unzerstört jener aus Findlingen erstellte Ehrenhain und in ihm der große Granit, der siebenunddreißig zu Ehren des Blutzeugen aufgestellt worden war. Ich bin sicher, daß Mutter nur deshalb mit mir in Schwerin geblieben ist.
Bemerkenswert bleibt, daß, seitdem nachträglich und doch wie gegenwärtig der Untergang des Schiffes zelebriert wurde und alle Toten je nach Rechnungsart gezählt, geschätzt, hochgerechnet, dann mit der Zahl der Überlebenden verglichen, schließlich mit den viel weniger zahlreichen Toten der Titanic in Vergleich gebracht worden waren, in jenen Gefilden des Internet, die ich gewohnheitsgemäß aufsuchte, für einige Zeit Windstille herrschte. Schon glaubte ich, sein System sei abgestürzt, die Luft sei raus, mein Sohn habe genug, es seien mit dem sinkenden Schiff Mutters Einflüsterungen gegenstandslos geworden. Doch die Ruhe war vorgetäuscht. Plötzlich stellte er mit neu aufgemachter Homepage sein altbekanntes Angebot vor.
Diesmal überwogen Bilder. Ziemlich graustichig abgebildet, doch mit fetten Buchstaben kommentiert, konnte alle Welt den hochragenden Granit bewundern und den unter der Lebensrune in Keilschrift gemeißelten Namen des Blutzeugen entziffern. Zudem wurde dessen Bedeutung anhand gereihter Daten, organisatorischer Leistungen und mit Ausrufezeichen betonter Bekenntnisse herausgestrichen und bis zu dem Tag und der Stunde seiner Ermordung im Lungenkurort Davos als Info ins fortlaufende Programm gerückt.
Wie auf Befehl oder sonstigen Zwang meldete sich David. Anfangs jedoch war nicht der Gedenkstein Thema, sondern der Mörder des Blutzeugen. Triumphierend gab David bekannt, daß im März des Jahres fünfundvierzig etwas zugunsten des seit über neun Jahren im Zuchthaus einsitzenden David Frankfurter geschehen war. Nach vergeblichem Versuch, ein Revisionsverfahren einzuleiten, wurde nunmehr von den Berner Rechtsanwälten Brunschwig und Raas ein Gnadengesuch eingereicht, gerichtet an den Großen Rat des Kantons Graubünden. Meines Sohnes Gegenspieler mußte einräumen, daß dem Begehren, den Rest der auf achtzehn Jahre bemessenen Zuchthausstrafe in Gnaden zu erlassen, erst am 1. Juni 1945, mithin nach Kriegsende entsprochen worden sei. Man habe abwarten müssen, bis der großmächtige Nachbar der Schweiz wie leblos am Boden lag. Weil David Frankfurter nach seiner Entlassung aus dem Sennhof-Gefängnis des Landes verwiesen wurde, sei er zu dem Entschluß gekommen, sogleich, von den Webstühlen weg, nach Palästina auszureisen, hoffend auf ein zukünftiges Israel.
Bei diesem Thema verlief der Streit zwischen den beiden verbissenen Online-Fightern eher maßvoll. Großzügig befand Konny: »Israel ist okay. Genau dahin gehörte der Mordjude. Konnte sich dort nützlich machen, im Kibbuz oder sonstwo.« Überhaupt habe er nichts gegen Israel. Dessen schlagkräftige Armee bewundere er sogar. Und völlig einverstanden sei er mit der Entschlossenheit der Israelis, Härte zu zeigen. Es bleibe ihnen ja keine andere Wahl. Palästinensern und ähnlichen Moslems gegenüber dürfe man keinen Fingerbreit nachgeben. Klar, wenn alle Juden, wie damals der Mordjude Frankfurter, ins Gelobte Land abhauen würden, fände er das in Ordnung, »dann ist der Rest der Welt endlich judenfrei!«
Diese Ungeheuerlichkeit nahm David hin; er gab meinem Sohn im Prinzip sogar recht. Offenbar machte er sich Sorgen: Was die Sicherheit der in Deutschland lebenden jüdischen Mitbürger betreffe, zu denen er sich zähle, sei das Schlimmste zu befürchten, der Antisemitismus nehme rapide zu. Wieder einmal müsse man die Ausreise erwägen. »Auch ich werde wohl demnächst meinen Koffer packen...« Woraufhin Konny »Gute Reise« wünschte, dann aber indirekt zu verstehen gab, daß es ihm Spaß bereiten würde,
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