Im Krebsgang
parkte den Wagen, als ich traumsicher Ort und Stelle gefunden hatte, neben der Jugendherberge. Hinter der Rückseite des grauverputzten Baus aus den frühen fünfziger Jahren fällt die Süduferbepflanzung des Schweriner Sees steil ab. Unten sieht man den knapp ans Wasser grenzenden Franzosenweg, der von Fußgängern und Radfahrern gerne benutzt wird.
Inzwischen ein heiterer Tag. Eigentlich kein Aprilwetter. Sobald sie durchkam, wärmte die Sonne. In einigem Abstand zur Eingangsseite der Jugendherberge lagen noch immer unbewegt, als sei hier nichts geschehen, die bemoosten Granitbrocken als Reste des vor Jahrzehnten allzu nachlässig abgeräumten Ehrenhains. Zwischen den damals gepflanzten Bäumen dünnstämmiger Wildwuchs. Deutlich, weil nur sparsam aufgeschüttet, hob sich das quadratische Fundament der Ehrenhalle ab, die somit in Umrissen zu erahnen war, wenngleich die frontal gestellte Jugendherberge jeglicher Vorstellung im Weg stand. Links von der Eingangstür, über der in erhabener Schrift der Name der Herberge, Kurt Bürger, zu lesen war, wartete aufgebockt eine Tischtennisplatte auf ein Spiel. In der Tür hing leicht schief ein Schild: »Von 9-16 Uhr geschlossen.«
Ich stand noch lange zwischen den bemoosten Granitbrocken, von denen einer sogar restliche Schrift und ein gemeißeltes Runenzeichen bewahrte. Fundsachen, aus welchem Jahrhundert?
Als Mutter und ich in Schwerin Zuflucht fanden, stand hier noch alles: Findling neben Findling, der Nazibau der Ehrenhalle und der große Granit mit dem Namen des Blutzeugen. Bereits ungepflegt, doch immer noch in Obhut der von den Rändern her zerbröckelnden Partei, sah Mutter die Gedenkstätte. Sie hat mir erzählt, daß sie auf Holzsuche bis zu den damals niedrigen Eichen und Buchen gekommen sei: »Na, wo ons die Beherde einjewiesen hat, gabs ja nuscht fiern Ofen...« Mit ihr waren viele Frauen und Kinder auf Suche.
Noch bevor am 3. Mai zuerst die Amerikaner von ihrem Elbbrückenkopf südöstlich Boitzenburg mit Panzern bis Schwerin vorstießen, dann die Engländer kamen - »Ächte Schotten sind das jewesen...« -, hatte man uns in der Schelfstadt, die gegen Kriegsende schon ziemlich baufällig gewesen sein muß, aus dem Schulkeller raus in der Lehmstraße einquartiert. In einen Ziegelbau mit Teerpappendach, der natürlich auf dem Hinterhof stand, wurden wir zwangseingewiesen. Steht immer noch, der Kasten. Waren zwei Zimmerchen mit Küche, Klo auf dem Hof. Sogar einen Kanonenofen hat man uns reingestellt.
Das Rohr ging zum Küchenfenster raus. Und um den Ofen zu füttern - Mutter kochte auf der Abdeckplatte -, mußte sie auf der Suche nach Brennholz weit laufen.
So ist sie zum Ehrenhain gekommen. Auch als im Juni die Engländer abgezogen waren und die Rote Armee kam und auf Dauer blieb, standen noch lange die Findlinge mit jeweils eingemeißelten Namen und Runen; die Russen kümmerte das nicht.
Das war seit dem Treffen in Potsdam zwischen den Siegern so abgemacht worden: wir saßen in der sowjetisch besetzten Zone fest, Mutter sogar freiwillig, seitdem sie auf dem größten der gebliebenen Steine, der zum Seeufer hin stand, einen ihr nicht unbekannten Namen entdeckt hatte: »Der Stain hat jeheißen, wie onsere Justloff mal hieß...«
Als ich bei meinem letzten Besuch in Schwerin zwischen den bemoosten Granitbrocken vor einem gespaltenen Findling stand und aus der eingemeißelten Keilschrift den Rest des Namens Wilhelm Dahl erraten konnte - vom Vornamen war bis zur Bruchkante nur die Silbe »heim« geblieben -, gab ich der Versuchung nach, mir Mutter auf Holzsuche vorzustellen, wie sie, beladen mit einem Bündel Äste und Reisig, den noch unversehrten Ehrenhain und die offene Ehrenhalle gesehen haben mag. Auf dem knappen Dutzend gereihter Findlinge wird sie die Namen ihr unbekannter, doch offenbar verdienter Parteigenossen - zwischen ihnen Wismars Kreisleiter Dahl - entziffert haben. Ich sehe, wie sie staunend, von kleiner Figur, zudem abgemagert vor dem vier Meter hohen Granit steht, kann aber ihre Gedanken nicht erraten, die sich verwirrt haben mögen, als sie die Inschrift auf dem Stein des Blutzeugen gelesen hatte. Doch wird Mutter, wie ich sie kenne, keine Scheu gekannt haben, inmitten des Hains die Ehrenhalle zu betreten.
Aus Granitquadern gefügt, war sie auf ebener Erde errichtet worden. In die glattgeschliffenen Flächen jener Säulen, die zu den offenen Seiten hin die Halle stützten, hatte ein zeitgenössischer Künstler überlebensgroße
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