Im Kreis des Wolfs
erwachsen werden.«
»Genau.«
»Meine Mom hat immer gesagt, Männer werden nicht erwachsen, sie werden immer unausstehlicher. In jedem von uns steckt ein kleiner Junge, und er bleibt uns bis zu unserem Tod erhalten und schreit:
ich will, ich will.«
»Und Frauen wollen nichts?«
»Sicher wollen sie, aber sie vertragen’s besser als Männer, wenn sie’s nicht bekommen.«
»Ach, was Sie nicht sagen!«
»Ja, Helen, ich glaube schon. Ich denke, Frauen sehen manches ein bisschen deutlicher als Männer.«
»Und das wäre?«
»Dass das
Wollen
besser sein kann als das Kriegen.«
Sie sahen einander einen Moment lang an. Es überraschte sie, einen philosophischen Zug an ihm zu finden, doch wie so oft schien in dem, was er sagte, noch eine andere Bedeutung mitzuschwingen.
Ethan Harding ging mit seinen mürrisch dreinschauenden Holzfällerkumpeln an ihr vorbei zur Tür. Er nickte Calder zu, doch keiner der Männer würdigte Helen auch nur eines Blickes.
Erst jetzt fiel Helen auf, wie wenig Menschen noch im Lokal waren. Sie hatten sich fast eine Stunde lang unterhalten. Helen sagte, es sei Zeit, sie müsse nach Hause, und wehrte seinen Versuch ab, sie noch zu einem letzten Drink zu überreden. Sie hatte mehr als genug getrunken.
»Ich habe unsere Unterhaltung sehr genossen«, sagte er.
»Ich auch.«
»Können Sie noch fahren? Ich bringe Sie sonst gern …«
»Nein, danke«, sagte sie ein wenig zu hastig.
»Ich begleite Sie noch bis zu Ihrem Wagen.«
»Ach was, das brauchen Sie nicht, ich komme schon zurecht.« Sie war noch nüchtern genug, um zu wissen, dass es ihrem Ruf schadete, wenn sie dabei gesehen wurden, wie siezusammen die Kneipe verließen. Wahrscheinlich zerrissen sich sowieso schon genügend Leute das Maul über sie.
Die Straße war leer und die kühle Nachtluft einfach wunderbar. Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel, und erst nachdem sie den gesamten Inhalt auf der Motorhaube ausgeleert hatte, fand sie ihn in ihrer Jackentasche. Es gelang ihr, den Wagen zu wenden, ohne irgendwo anzustoßen, und als sie mit äußerster Konzentration aus der Stadt fuhr, ahnte sie bereits, dass sie am nächsten Tag einen Kater haben würde. Und der war alles andere als angenehm, wenn sie am Morgen mit Dan flog.
Vor sich sah sie die Reihe mit den Briefkästen. Auf dem Weg in die Stadt hatte sie, wie schon seit drei Tagen, nicht in dem ihren nachgesehen, um sich nicht die Laune zu verderben, falls er wieder leer war. Jetzt holte sie das nach.
Als sie näher kam, sah sie etwas Weißes auf der Straße liegen. Erst einen Augenblick später erkannte sie, was es war. Sie richtete die Scheinwerfer darauf und stieg aus.
Es war ihr Briefkasten. Die Metallhalterung lag verbogen am Boden, der Kasten selbst war zertrümmert. Es sah aus, als hätte jemand darauf eingeschlagen und sei dann auch noch mit dem Auto darübergefahren. Die anderen Briefkästen waren unbeschädigt.
Helen stand da, vom Licht der Scheinwerfer angestrahlt, blickte stirnrunzelnd und ein wenig schwankend auf die Trümmer, wurde aber mit jeder Sekunde nüchterner. Der Motor begann zu stottern und starb dann ab. Erst jetzt hörte sie den klagenden Wind. Er hatte gedreht und wehte kalt von Norden.
Irgendwo im Wald begann ein Kojote zu heulen, der schon bald wieder verstummte. Sie starrte den grauen Schotterweg an. Einen Moment lang glaubte sie, dort etwas Helles flattern zu sehen, doch dann war es wieder verschwunden.
Sie wandte sich um und ging zurück zu ihrem Wagen. Noch einmal bewegte sich der Brief, der auf dem Weg lag, wurde vom Wind herumgewirbelt und dann fortgeweht.
19
Dan Prior war kein religiöser Mensch. Im besten Fall war der Glaube für ihn ein Hindernis auf dem Weg zur Erkenntnis, ein Vorwand, sich nicht mit dem Hier und Jetzt auseinandersetzen zu müssen. Und in praktischer Hinsicht schien es ihm einfach klüger, selbst in die Hand zu nehmen, was getan werden musste, statt es jemandem zu überlassen, den man noch nie gesehen hatte und der sich vermutlich auch nicht blicken lassen würde.
Es gab jedoch besondere Anlässe, bei denen Dan stets Zuflucht im Gebet suchte. So zum Beispiel an den Samstagabenden, wenn seine Tochter länger ausblieb als vereinbart und nicht anrief – was in letzter Zeit ständig passierte –, oder dann, wenn er fliegen musste. Das schien ihm nur logisch. So weit oben war die Hilfe von unten begrenzt, und falls es da oben tatsächlich jemanden gab, konnte es nicht schaden, wenn man vorgebaut
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