Im Kreis des Wolfs
umschlungen hielten, hatte sie ihm gestanden, dass sie sich die Schuld an der lieblosen Ehe ihrer Eltern gab. Und dann hatte Luke ihr von seiner vermeintlichen Schuld am Tod seines Bruders erzählt. Mit großem Eifer, doch ohne jede Wirkung, hatten sie einander schließlich versichert, wie absurd doch die Schuldgefühle des jeweils anderen waren. Die Absurdität der Gefängnisse anderer Menschen war stets so viel leichter zu erkennen.
Heute waren sie nach Great Falls gefahren, weil Helen sich ein Kleid für die Hochzeit ihres Vaters kaufen wollte.In zwei Tagen würde sie nach Barbados fliegen. Gleichsam wie ein Vorgeschmack auf das Wetter in der Karibik blies ein Chinook von den Bergen, so dass der Schnee rasch dahin schmolz.
Sie kamen jeweils mit dem eigenen Wagen und trafen sich wie ein heimliches Liebespaar auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums. Helen war zu früh da. Sie blieb im grauen Schneematsch stehen, wartete zehn Minuten und hielt auf dem Highway nach Lukes Jeep Ausschau. Er kam von seiner Therapiestunde in Helena. Sie fragte sich besorgt, ob er sich nach dem, was zwischen ihnen vorgefallen war, ihr gegenüber anders verhalten würde. Doch ihre Sorge war unbegründet, er war lieb wie immer und ganz natürlich und legte kurz den Arm um sie, als sie ins Einkaufszentrum gingen.
Sämtliche Läden waren mit Lichterketten und Flittergold geschmückt, und in den Einkaufspassagen erklangen überall Weihnachtslieder. Um diese Jahreszeit gab es nur Winterkleidung, und Helen stellte sich gerade vor, wie sie sich wohl auf Barbados in Parka und Skihose machen würde, als Luke ein Sonderangebot entdeckte. Es war ein einfaches, ärmelloses, gelbes Kleid, Größe 36. Sie betrat die Umkleidekabine ohne allzu große Begeisterung.
Es war vier Monate her, seit sie sich zuletzt in einem Spiegel betrachtet hatte. Sie bekam einen Schreck. Ihre Haare waren nachgewachsen, so dass sie wie ein gerupftes Huhn aussah.
Außerdem hatte sie Gewicht verloren. Ihr Gesicht schien nur noch aus Wangenknochen zu bestehen, und im harten, fluoreszierenden Licht hatte sie Ringe unter den Augen. Als sie sich auszog, wurde es noch schlimmer. Die Haut spannte sich straff über den Rippen und den vorspringenden Hüftknochen. Das Kleid hatte Spaghettiträger, und sie musste es ohne BH anprobieren. Ihre Brüste schienen geschrumpft zusein. O Gott, dachte sie, ich sehe ja aus wie ein Skelett. Rasch streifte sie das Kleid über den Kopf, um ihren Körper nicht länger im Spiegel betrachten zu müssen.
Kaum zu glauben, aber es sah okay aus. Es war ein wenig zu lang und unter den Armen zu weit ausgeschnitten; sie wirkte darin ein bisschen komisch, so blass, bis auf das wettergegerbte Gesicht und die verblassende Bräune an den Armen, doch die Farbe stand ihr. Mit etwas Make-up, nein, mit viel Make-up würde sie vielleicht ganz passabel aussehen.
Luke wartete vor der Umkleidekabine, musterte seine Stiefel und sah etwas unglücklich drein, während zwei junge Frauen neben ihm über die Vorteile eines Pullovers diskutierten, den eine von ihnen anprobiert hatte.
»Luke?«
Er hob den Blick. Sie kam barfuß auf ihn zu und war verlegen wie ein Mädchen im ersten Partykleid. Als sie vor ihm stand, drehte sie verschämt eine kleine Pirouette. Er runzelte die Stirn und schüttelte leicht den Kopf.
»Nein? Gefällt es dir nicht?«
»Nein, ich meine, doch. Es ist bloß …« Er schlug einen Moment die Augen nieder und holte tief Luft, so wie er es manchmal tat, wenn er blockiert war und darauf wartete, dass die Worte sich lösten. Dann schaute er wieder auf.
»Es ist gut«, sagte er einfach.
Doch wie er sie anlächelte, rührte sie zutiefst.
Wie ein Wolf sog Lovelace schnuppernd die Nachtluft ein.
In der letzten Stunde hatte er sich besorgt gefragt, ob der Wind wieder nach Westen umschlagen und seinen Geruch in den Cañon und über den Bach an die Stelle wehen könnte, wo er den Kadaver ausgelegt hatte. Wenn das passierte, konnte er gleich wieder einpacken und nach Hause fahren. Doch der Wind kam stetig aus Norden und würdeden Blutgeruch des toten Hirschs den Cañon hinuntertragen, genau dorthin, wo er ihn haben wollte.
Der Chinook blies seit dem frühen Nachmittag, wirbelte schiefergraue Wolken die Berge hinab und jagte sie über die Ebenen. Seit dem Morgen taute es im Wald, Schmelzwasser rann die Felsen hinab. Man konnte die Schneedecke bersten hören, wenn der Schnee schmolz, sich setzte und wieder erstarrte. Zweimal schon hatte er Lawinen abgehen
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