Im Kreis des Wolfs
Winter geschwächten Hirschen ihre Not.
Immer wieder schlichen sie sich an, kundschafteten aus – jedes Mal vergebens. Manchmal fingen sie ein Kaninchen oder einen Schneehasen und teilten die Beute mit ihrer Mutter, doch war das Mahl nur selten die Mühe wert, die sie aufgewendet hatten. Abgemagert und unruhig folgten sie dem Geruch von Aas und stürzten sich auf die Beutereste anderer Raubtiere.
Es war ein ganz anderer Geruch, der sie an den schneeverwehten Rand einer Lichtung lockte, auf der ein alter Mann an einen Baum gelehnt saß. Seine nackten Zehen ragten aus dem Schnee, der in einiger Entfernung vom Leichnam mit Kojoten- und Rotluchsspuren übersät war. Die Wölfe waren misstrauisch, lag doch etwas Beängstigendes und zugleich Vertrautes in seinem Geruch, und weit Beunruhigenderes verriet ihnen der Geruch des Platzes selbst, an dem sie ihn gefunden hatten. Mit angelegten Ohren und eingeklemmten Schwänzen schlichen sie sich fort und überließen den Leichnam den aus dem Winterschlaf erwachenden Bären.
Die Witterung, die die wärmende Luft aus dem Tal herauftrug, war viel verlockender. Inzwischen hatten die Hauptherden mit dem Kalben begonnen, und die Wölfe kannten bereits die Stellen, an denen die Rancher ihre toten Tiere abluden. Die Wölfe brauchten nur die Kojoten zu vertreiben, dann konnten sie ungestört fressen.
Als die Stunde der weißen Wölfin gekommen war, verschwand sie allein in der Höhle. Die beiden Jährlinge warteten die ganze Nacht und auch den nächsten Tag darauf, dass sie wieder herauskäme. Sie liefen rastlos auf und ab oder lagen stundenlang da, den Kopf auf den Pfoten, und beobachteten den Eingang zur Höhle. Manchmal streckten sie winselnd den Kopf ins Loch, doch ein Knurren aus derTiefe warnte sie, nicht näher zu kommen Als die Wölfin sich auch am zweiten Abend nicht blicken ließ, zogen sie hungrig davon.
Und während das Muttertier sechs Junge zur Welt brachte, taten sie es ihrem toten Vater gleich, stahlen sich aus dem Wald und rissen ohne große Mühe ihr erstes Kalb.
Sie hatten keinen schlechten Geschmack: Es handelte sich um ein reinrassiges Black-Angus-Kalb der Calder-Ranch.
In der Hütte hatte sie es noch für einen guten Einfall gehalten, aber als sie nun den Wagen abstellte und über die Straße zum Andenkenladen schaute, wäre Helen am liebsten wieder umgekehrt. Doch wahrscheinlich war es dafür bereits zu spät. Lukes Mutter hatte sie bestimmt schon durchs Schaufenster gesehen.
Sie hatte Luke erzählt, sie wolle in die Stadt, um bei Iversons einige Vorräte zu kaufen, denn er sah mit Sicherheit nicht gern, wenn sie seine Mutter aufsuchte. Doch Helen fand, sie schulde der Frau eine Erklärung. Was sie ihr allerdings genau sagen wollte, wusste sie nicht. Etwa: Tut mir leid, dass ich Ihnen Ihren Sohn weggenommen habe? Oder: Tut mir leid, dass ich ihm die Unschuld geraubt habe? Es fiel ihr schwer genug, sich selbst über ihr Verhältnis zu Luke klarzuwerden, wie sollte sie es da einem anderen erklären.
Wie sollte jemand auch nur annähernd verstehen, wie sie sich an jenem Tag gefühlt hatte, als er mit seinen beiden großen Taschen vor ihrer Hütte auftauchte und sagte, er sei von zu Hause fortgegangen und ob er »einige Tage bei ihr bleiben« könne? Sie hatte ihn einfach in den Arm genommen, und so waren sie lange eng umschlungen dagestanden.
»Ab jetzt passe ich auf dich auf«, hatte er gesagt. Und so war es auch.
Mit ihm auf winzigem Raum zusammenzuleben schien ihr das Natürlichste von der Welt zu sein. Luke hatte scherzhaft gemeint, sie lebten wie die Wölfe. Und in gewisser Weise stimmte das auch. Bevor sie ins Bett gingen, wärmten sie abends oft Wasser auf dem Ofen, zogen sich aus und wuschen sich gegenseitig. Nie zuvor hatte Helen einen so zärtlichen Liebhaber gehabt, und nie zuvor, selbst mit Joel nicht, hatte sie ein solches Verlangen gespürt.
Mit Joel hatte sie Leidenschaft, Befriedigung und auch Freundschaft kennengelernt, doch erst jetzt begriff sie, dass zwischen ihnen nie jene Vertrautheit gewesen war, die sie mit Luke verband. Als sie mit Joel zusammengewesen war, hatte sie sich stets kontrolliert und sich bemüht, jene Frau zu sein, die er ihrer Meinung nach haben und behalten wollte.
Nun glaubte sie allerdings, dass es echte Vertrautheit nur geben konnte, wenn zwei Menschen ganz sie selbst waren und sich nicht ständig aneinander maßen. Mit Luke konnte sie so sein. Bei ihm fühlte sie sich begehrt und schön, doch vor allem
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