Im Kreis des Wolfs
fühlte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben nicht immerzu beurteilt.
Doch wie um alles in der Welt sollte sie das seiner Mutter erklären? Vielleicht war es doch besser, wieder nach Hause zu fahren. Statt dessen aber bekreuzigte sie sich in Gedanken und stieg aus.
Die frisch übermalte Autotür sah fast so schlimm aus wie mit dem eingekratzten Wort HURE. Luke hatte bei einem Toyota-Händler in Helena den richtigen Farbton aufgetrieben und hervorragende Arbeit geleistet, nur war der Wagen insgesamt so vergammelt und verrostet, dass die Tür wie eine Aufforderung zu neuen Schmierereien wirkte.
Als sie die Tür zum Paragon öffnete, ertönte die Glocke. Zum Glück waren keine Kunden da; Ruth Michaels stand an der Kasse.
»Hi, Helen. Wie geht’s?«
»Soweit ganz gut. Und selbst?«
»Besser, seit der Schnee endlich weg ist.«
»Kann ich mir denken. Ist Mrs. Calder da?«
»Klar, sie ist hinten. Ich hol sie. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke.«
Helen wartete und summte leise eine Melodie vor sich hin, um ruhiger zu werden. Sie konnte die beiden Frauen miteinander reden hören, verstand aber nicht, was sie sagten. Ruth kam zurück und zog ihren Mantel an.
»Ich muss mal kurz was erledigen. Bis später dann, Helen, ja?«
»Gut.«
Wieder hörte sie die Glocke an der Tür, und ihr fiel auf, dass Ruth beim Hinausgehen das »Offen/Geschlossen«-Schild umdrehte und die Tür abschloss.
»Hallo, Helen.«
»Hi, Mrs. Calder.«
Helen hatte sie seit Thanksgiving nicht mehr gesehen, und verblüfft registrierte sie, welche Ähnlichkeit sie mit Luke hatte: die gleiche blasse Haut und die schönen, grünen Augen. Sie lächelte.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ahm. Na ja, ich …«
»Kommen Sie. Setzen wir uns hierhin, da kann man uns nicht beobachten.«
Helen folgte ihr zu der kleinen Kaffeetheke und setzte sich auf einen Barhocker. Eleanor Calder stellte sich hinter den Tresen.
»Kann ich Ihnen einen Kaffee machen?«
»Nur, wenn Sie auch einen trinken.«
»Ich glaub, dann nehme ich einen ›ohne‹.«
»Für mich einen ›mit‹, bitte. Einen großen, extra stark.«
Helen überlegte, wie sie beginnen sollte. Stumm schaute sie zu, wie Lukes Mutter den Kaffee zubereitete. Und sie fragte sich erstaunt, wie eine Frau so lange mit einem Mann wie Buck Calder verheiratet sein konnte, ohne ihre Liebenswürdigkeit und Würde zu verlieren.
»Ich bin hergekommen, weil ich das mit Luke erklären wollte – nein, eigentlich nicht
erklären,
sondern … ich wollte Ihnen nur sagen, dass… ach Mist.«
Mrs. Calder lächelte. »Ich mache Ihnen die Sache ein bisschen leichter.« Sie stellte Helen den Kaffee hin und goss sich dann selbst eine Tasse ein. »Sie haben Luke sehr glücklich gemacht. Soweit ich es beurteilen kann, tun Sie ihm also nur gut.«
Sie ging um den Tresen herum, setzte sich und rührte nachdenklich in ihrem Kaffee.
»Danke«, sagte Helen verblüfft.
»Und dass er zu Ihnen gezogen ist, nun, da kann ich nur sagen, einige Leute hier in dieser Gegend sind ziemlich altmodisch. Was Sie machen, geht nur Sie was an. Und ehrlich gesagt, wüsste ich auch nicht, wo er sonst hin soll.«
»Luke hat mir erzählt, dass Sie auch ausgezogen sind.«
»Ja.«
»Das tut mir leid.«
»Nicht nötig. Ich hätte schon vor Jahren gehen sollen. Wahrscheinlich bin ich nur wegen Luke geblieben.«
Sie redeten noch eine Weile über Lukes Bewerbung für die Universität und dann über die Wölfe. Helen sagte, dass wahrscheinlich nur noch drei oder vier übrig waren. Aus Aberglauben erzählte sie jedoch nichts davon, dass sie seit dem Vortag auch das Signal des Alpha-Weibchens nicht mehr empfingen. Mit etwas Glück konnte dies nämlich bedeuten, dass es sich zum Jungen in eine Höhle zurückgezogen hatte.
»Was ist mit den anderen passiert?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat jemand sie getötet.«
Eleanor Calder runzelte die Stirn.
»Wissen Sie, ich habe ganz vergessen, Luke etwas davon zu erzählen, und vielleicht sollte ich auch lieber nichts erwähnen, aber oben auf der Ranch arbeitet ein Mann namens Lovelace für meinen Schwiegersohn. Erst fiel mir nicht ein, wo ich den Namen schon mal gehört hatte, aber dann wusste ich es wieder. Es gab einmal einen berühmten alten Trapper in Hope mit diesem Namen, und den haben sie den ›Wolfsjäger‹ genannt.«
Dan erkannte sofort, dass Calder und dessen Schwiegersohn die Richtlinien der Viehzüchtervereinigung diesmal buchstabengetreu befolgt hatten. Die beiden toten
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