Im Kreis des Wolfs
eben. Sie wollten zusammenbleiben, bis wir ihrer Meinung nach die Trennung besser verkraften würden.«
»Aber warst du denn nicht schockiert?« fragte Helen ungläubig.
»Natürlich, eine Weile war ich stinksauer, aber man sollte sich so etwas nicht zu sehr zu Herzen nehmen. Schließlich ist es ja ihr Leben.«
Helen hatte noch eine Weile nachgebohrt, hatte versucht, einen Riss in dem zu finden, was sie für einen schützenden Panzer hielt, aber es war ihr nicht gelungen. Vielleicht stimmte es ja, dass jenes Ereignis, das sie in ihren Grundfesten erschüttert und zumindest in ihrem Liebesleben dafür gesorgt hatte, dass sie jahrelang ziellos dahintrieb, ihre Schwester nahezu unberührt gelassen hatte. Jedenfalls machte es keinen Sinn, mit ihr darüber zu reden. Wie seltsam nur, dachte Helen, dass zwei Menschen mit gleichen Genen derart verschieden sein können. Doch vielleicht war ja eine von ihnen bei der Geburt vertauscht worden.
Nach einem Monat, in dem sie viel geschwommen, gelesen und mit Kyle und Carey am Strand herumgetollt hatte, wurde Helen unruhig. Eine Freundin aus Minneapolis gab ihr die Nummer eines Freundes namens Bob, der am Marine Biological Laboratory in Woods Hole arbeitete, ein paar Meilen das Cape hinunter, und eines Abends rief Helen ihn an.
Er klang nett und lud sie am Wochenende mit einigen seiner Freunde zu einem Abendessen ein. Sie wollten sich ein paar »phantastische Aufnahmen« ansehen, die einer der Typen aus Woods Hole im Bauch eines Sandhais geschossen hatte. Das entsprach zwar nicht gerade Helens Vorstellung von einem schönen Abend, aber zum Teufel, warum nicht, dachte sie.
Joel Latimer fiel ihr sofort auf, als sie ins Haus trat.
Er sah wie einer dieser kalifornischen Surffreaks aus den sechziger Jahren aus, groß, schlank, braungebrannt und mitblondem, sonnengebleichtem Haarschopf. Er ertappte sie dabei, wie sie ihn anstarrte, während Bob ihr von Woods Hole erzählte, und er lächelte sie so direkt an, dass sie beinahe ihren Wein verschüttet hätte.
In der Küche bediente sich jeder selbst, und als Helen sich den Teller mit vegetarischer Lasagne füllte, stand er plötzlich neben ihr.
»Sie sind also die Frau, die mit den Wölfen tanzt«, sagte er.
»Von Tanzen kann keine Rede sein.«
Er lachte. Er hatte die blauesten Augen und weißesten Zähne, die sie je gesehen hatte. Sie spürte, wie sich ihr der Magen verkrampfte, und sagte sich, mach dich nicht lächerlich. Schließlich war er überhaupt nicht ihr Typ, auch wenn sie nicht genau wusste, wie ihr Typ eigentlich aussah. Er legte ihr Salat auf.
»Machen Sie hier Urlaub?«
»Ja, ich wohne bei meiner Schwester in Wellfleet.«
»Dann sind wir ja Nachbarn.«
Joel stammte aus North Carolina, was sie an seinem Akzent hörte. Sein Vater war im Fischgeschäft tätig. Er erzählte, dass er an einer Doktorarbeit über Teufelskrabben sitze, die aber eigentlich gar keine Krabben, sondern Arachniden seien, entfernte Verwandte der Spinnen. Sie seien eine Art lebender Fossilien, schon zu Zeiten der Dinosaurier uralt; sie existierten unverändert seit etwa vierhundert Millionen Jahren.
»Ganz wie mein Professor«, sagte sie, und er lachte. Mein Gott, kam sie sich heute Abend witzig vor. Normalerweise verstummte sie in Gegenwart gutaussehender Männer oder plapperte wie eine Irre drauflos. Sie fragte ihn, wie die Krabben aussahen.
»Kennen Sie diese Helme der Nazis? Nun, genau so, bloß braun. Und im Innern steckt eine Art Skorpion.«
»Kein Zweifel, mein Professor.«
»Und hinten hängt noch so ein stachliger Schwanz dran.«
»Er hält seinen versteckt.«
Joel erzählte ihr, dass das Blut der Teufelskrabbe in der Medizin vielfältige Verwendung finde und sogar zur Diagnose und Behandlung von Krebs eingesetzt werde. Doch die Spezies sei bedroht, und eines der Probleme hier auf Cape sei, dass die Aalfischer sie zum Ködern benutzten. Seine Nachforschungen sollten klären, wie ernsthaft sich dies auf die hiesige Population der Teufelskrabben auswirkte. Joel wohnte in einem großen, alten Haus südlich von Wellfleet, das er gemietet hatte. Es sieht wie ein Schiff aus, sagte er. Sie solle doch mal vorbeikommen und ihn besuchen.
Sie verzogen sich mit ihrem Essen in eine Ecke, und er sagte ihr, wer die anderen Gäste waren. Er erzählte vom Video, das sie zu sehen bekommen würden. Sie fragte ihn, wie man einen Film im Bauch eines Hais drehe.
»Nur mit größter Mühe.«
»Wahrscheinlich braucht man dafür einen ziemlich großen
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