Im Kreis des Wolfs
Sumpfgras suchte und Vögeln hinterherjagte, die er aufgescheucht hatte, um dann irgendwann wieder aufzutauchen und sie zu erschrecken, wenn er sein Fell über ihren nackten Beinen ausschüttelte.
Etwa eine halbe Meile weiter am Strand lag der Rumpf einer alten Jolle, die vielleicht vor Zeiten jemand hatte überholen wollen, nun aber längst verrottet war. Man hatte sie auf einen Felsen gezogen, wo sie das Wasser nur noch bei hohen Flutständen erreichte, und dort lag sie, von moosbehangenen Seilen an zwei alte Bäume gebunden. Sie sah aus wie das Skelett einer kleinen Arche Noah, nur noch von Ratten bewohnt, denen Buzz allabendlich einen Besuch abstattete. Er war auch jetzt in dem Boot und knurrte und scharrte im Dunkeln herum. Helen setzte sich auf einen angeschwemmten Holzstamm und steckte sich eine Zigarette an.
Sie und Buzz waren Anfang Juni vor zwei Jahren zum ersten Mal auf dem Kap in Urlaub gewesen. Ihre Schwester hatte sich ein Haus für die ganze Saison gemietet, eines dieser sündteuren Anwesen hoch über dem Wasser, mit atemberaubendemBlick auf Great Island und einer eigenen, steilen Holztreppe hinunter zum Strand. Sie hatte Helen zu sich eingeladen.
Celia hatte ihre Jugendliebe vom College geheiratet, den genialen, doch langweiligen Bryan, dessen Softwarefirma gerade von einem kalifornischen Computergiganten für einen horrenden Preis gekauft worden war. Doch sie waren auch schon vorher glücklich gewesen und hatten, wie erwartet, ohne alle Komplikationen zwei perfekte, blonde Kinder in die Welt gesetzt, einen Jungen und ein Mädchen, Kyle und Carey. Sie wohnten in Boston in einem umgebauten Haus am Strand, für dessen Design sie natürlich mehrere Preise gewonnen hatten.
Den größten Teil der vorhergehenden fünf Jahre hatte Helen unter freiem Himmel in der Wildnis von Minnesota verbracht, und sie brauchte eine Weile, um sich an den Luxus zu gewöhnen. Der »Gästetrakt« in Celias Mietshaus auf Cape Cod besaß sogar ein eigenes Jacuzzi. Eigentlich wollte Helen nur eine Woche bleiben, um sich dann wieder in Minneapolis an ihre Doktorarbeit zu setzen, die ihr Professor schon angemahnt hatte, doch dann blieb sie den ganzen Sommer bei Celia.
Am Wochenende kam Bryan meist von Boston herüber, und einmal besuchten ihre Mutter und Ralphie sie für ein paar Tage und schafften es sogar, dass das Bett unter ihnen zusammenkrachte. Die übrige Zeit waren Helen, Celia und die Kinder allein. Sie kamen gut miteinander aus, und es war genügend Zeit, die Kinder besser kennenzulernen; doch ihre Schwester war Helen nach wie vor ein Rätsel.
Celia schien nichts aus der Fassung bringen zu können. Sie nahm es sogar gelassen hin, dass Buzz ihren besten Strohhut auffraß. Ihre Kleider waren immer sauber und gebügelt, die Figur schlank, das Haar gewaschen und ordentlichfrisiert. Und wenn Kyle und Carey einmal weinten oder einen Wutanfall bekamen, lächelte sie nur und tröstete und umarmte sie, bis sie sich beruhigt hatten. Sie engagierte sich für wohltätige Zwecke, spielte elegant Tennis und kochte traumhaft gut. Sie konnte in nur einer halben Stunde aus dem Nichts ein Festessen für zehn Personen auf den Tisch zaubern. Sie hatte nie Kopfschmerzen, kannte keine schlaflosen Nächte, war niemals launisch, wenn sie ihre Tage hatte, und sicher, dachte Helen, entschlüpfte ihr nicht mal auf der Toilette ein Furz.
Helen hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, ihre Schwester schockieren zu wollen. Es war einfach unmöglich. Außerdem waren sie jetzt erwachsen, und man versuchte derlei nicht mit jemandem, der einem die Unterwäsche wusch und jeden Morgen eine Tasse Kaffee ans Bett brachte. Sie redeten viel miteinander, vor allem über Belangloses, und nur gelegentlich versuchte Helen herauszufinden, was Celia von den wichtigen Dingen des Lebens hielt oder zumindest doch von jenen Dingen, die sie selbst für wichtig hielt.
Eines Abends, als Bryan nicht da war und die Kinder schon schliefen, fragte Helen ihre Schwester über die Scheidung ihrer Eltern aus. Sie saßen am Tisch unter den Bäumen, leerten die Flasche Wein, von der Helen wie gewohnt das meiste getrunken hatte, und sahen zu, wie die Sonne hinter dem schwarzen Streifen der Küste von Massachusetts versank. Helen wollte wissen, ob die Scheidung für Celia so traumatisch wie für sie selbst gewesen war.
Celia zuckte die Schultern. »Ach, vermutlich fand ich es so einfach am besten.«
»Aber hat dich das nicht wütend gemacht?«
»Nein, so waren sie
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