Im Kreis des Wolfs
Schindeln klapperten und der Wind um das Dach heulte.
In diesem Winter fiel zum ersten Mal seit Jahren Schnee, der fast einen Monat liegenblieb. Es war so kalt, dass die Bucht zufror. Sie starrten aus dem mit Eisblumen überzogenen Fenster auf das gefrorene Wasser, das sich wie eine Tundra bis zum grauen Horizont erstreckte. Joel meinte, sie säßen wie Doktor Schiwago und Lara in einem Eispalastfest. Jetzt fehle nur noch, dass ihnen nachts Helens Wölfe aus Minnesota etwas vorheulten.
Das folgende Frühjahr und der Sommer waren die glücklichste Zeit in Helens Leben. Sie liehen sich ein Boot, und Joel brachte ihr das Segeln bei. Abends streiften sie manchmal durch die Wälder zu einem Süßwasserteich und badeten nackt.
Sie lagen in den Dünen, hielten sich im Arm und lauschten dem Quaken der Frösche und dem Tosen des Ozeans.
Statt ihre eigene Arbeit zu schreiben, half Helen Joel bei seinen Forschungen. Wölfe schienen jetzt einer fernen Zeit anzugehören, einem trostlosen Ort in der Vergangenheit. Dies hier war ihr Leben, diese Gegend mit ihren Stränden, an denen sich die Menschen tummelten, mit dem weiten Himmel und einer Luft so voller Salz und Ozon, dass sie einem selbst die Schädelinnendecke blankpolierte.
Im zweiten Herbst begann sie endlich mit ihrer Doktorarbeit. So wie er es ihr vor einem Jahr versprochen hatte, arbeiteten sie Seite an Seite am großen Erkerfenster. Manchmal verbrachten sie einen ganzen Tag damit, über ein Problem zu diskutieren, an anderen Tagen sprachen sie kaum ein Wort miteinander. Dann ging Joel hin und wieder in die Küche, machte Tee, brachte ihn an den Tisch und küsste sie auf die Stirn, während sie weiterschrieb oder ihm einen Kuss auf die Hand drückte, lächelte und sich dann wieder ihrer Arbeit widmete.
Doch ganz allmählich veränderte sich etwas. Joel wurde stiller und korrigierte sie manchmal, wenn sie etwas sagte. Er kritisierte Kleinigkeiten, dass sie ungewaschenes Geschirr in der Spüle stehen ließ oder vergessen hatte, das Licht auszuknipsen. Sie machte sich nicht allzu viele Gedanken darüber, versuchte jedoch, nicht die gleichen Fehler zu wiederholen.
Sie waren lange unterschiedlicher Meinung darüber gewesen, was jene Frage betraf, die Helens Arbeit zugrunde lag: anerzogen oder angeboren. Für Joel war das Verhalten von Lebewesen von den Genen bestimmt, während Helen glaubte, dass Erfahrung und Lebensumstände fast genauso wichtig waren. Sie hatten sich stundenlang und stets freundschaftlich über dieses Thema unterhalten, doch wenn sie jetzt darauf zu sprechen kamen, wurde Joel ungeduldig, und eines Abends schrie er sie an und nannte sie eine Idiotin. Später entschuldigte er sich, und Helen versuchte, es nicht so tragisch zu nehmen, doch sie war noch tagelang verletzt und wie vor den Kopf gestoßen.
Weihnachten verbrachten sie bei Celia, und Joel und Bryan stritten sich über eine neue, sich in Zentralafrika anbahnende Katastrophe. Sämtliche Fernsehsender zeigten Aufnahmen Tausender verhungernder Flüchtlinge, die durch knietiefen Dreck und Schlamm vor Stammesfehden flohen. Der Bus einer amerikanischen Hilfsorganisation war überfallen und die Insassen mit Macheten niedergemetzelt worden. Bryan, der in seinem Ledersessel im großen Wohnzimmer saß, sagte so nebenbei, dass er nicht verstünde, wieso wir uns darüber aufregten.
»Was soll das denn heißen?«, fragte Joel.
Helen befand sich im Flur, als ihr der Ton seiner Stimme auffiel. Sie hatte den Kindern noch eine Geschichte vorgelesen, und Carey hatte sie gefragt, ob sie Joel heiraten und Babys kriegen wollte; doch Helen hatte ihre Frage mit einem Scherz abgetan und eine ehrliche Antwort vermieden.
»Das geht uns doch eigentlich nichts an, oder?«, fragte Bryan.
»Und? Sollen wir sie einfach alle sterben lassen?«
»Diese Typen bringen sich doch schon seit Jahrhunderten gegenseitig um, Joel.«
»Wird es dadurch vielleicht besser?«
»Nein, aber es hat nichts mit uns zu tun. Ich finde es vom Westen sogar ziemlich arrogant, sich da einzumischen. Als ob wir die zivilisierteren Menschen wären. Dabei begreifen wir nicht mal, warum sich diese Leute überhaupt gegenseitig umbringen. Und solange man nichts begreift, macht man alles nur noch schlimmer.«
»Wieso denn das?«
Helen stand in der Tür. Celia kam aus der Küche und zog eine Grimasse, als sie an ihr vorbei ins Wohnzimmer ging.
Vergnügt fragte sie, wer Kaffee wolle, und meinte damit: Es reicht, Jungs, frohe Weihnachten. Jetzt ist’s
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