Im Kreis des Wolfs
es hier genauso heiß wie in New York, aber die Hitze war anders, die Luft sauber, und unablässig wehte ein leichter Wind.
Der Wagen holperte über den Weg, bis sie durch die Bäume die dunkle Wasserfläche und die drei kleinen Häuser sehen konnte, an denen sie vorbeifahren musste, ehe eszu ihrem Haus hinunterging. Sie hielt an ihrem Briefkasten, aber er war leer. Seit über einem Monat hatte Joel nicht mehr geschrieben.
Bei den Turners brannte noch Licht. Wenn sie unterwegs war, kümmerten sich die Turners um Buzz, ihren Hund, der einen lauten Willkommensgruß kläffte, als sie das Auto vor dem Haus zum Stehen brachte. Er stand hinter der Fliegengittertür in der Küche und wandte den Blick nicht von ihr, bis Mrs. Turner kam und ihn hinausließ.
Buzz war ein kastrierter, struppiger Mischling ungewisser Herkunft, den Helen sich zu Weihnachten aus einem Tierheim in Minneapolis geholt hatte, kurz bevor sie Joel kennenlernte. Wenn sie von ihrem Vater und einem übellaunigen Hamster einmal absah – eines jener Haustiere aus der großen Menagerie ihrer Kindheit –, hatte sie noch zu keinem männlichen Wesen eine derart lange Beziehung wie zu Buzz gehabt. Sein Fell war ziemlich zottelig, weshalb der Name Buzz, also Bürstenschnitt, überhaupt nicht zu ihm passte. Doch als sie ihn das erste Mal sah, hatte man sein Fell gerade kurz geschoren, um ihn von Ungeziefer zu befreien. Buzz war mit den großen Flecken purpurroter Desinfektionslösung im Fell wohl mit Abstand der hässlichste Hund im ganzen Tierheim gewesen. Helen hatte ihn sofort ins Herz geschlossen.
»He, du Chaot. Wie geht’s dir? Jetzt mach Platz. Platz!«
Buzz sprang in den Wagen und wartete auf dem Beifahrersitz, während Helen sich bei Mrs. Turner bedankte und ein oder zwei Minuten mit ihr über den Horror eines Sommertags in der Stadt plauderte. Dann fuhr sie mit Buzz die letzte Viertelmeile durch zahllose Schlaglöcher zu ihrem Haus.
Es war ein großes, altes Gebäude mit verwitterten, weißen Schindeln, die laut klapperten, wenn der Wind, wie sooft, aus Westen herüberblies. Wie ein gestrandeter Liniendampfer erhob es sich am Rand des Wassers und ragte über einem sumpfigen Meeresarm auf. Innen glich es erst recht einem Schiff, da sämtliche Wände, Böden und Decken mit schmalem, dunkel lackiertem Paneelholz verkleidet waren. Oben schauten zwei Giebelfenster wie Bullaugen auf die Bucht. Die Schiffsbrücke war ein tiefes Erkerfenster im Wohnzimmer, von dem man bei Flut hinausblicken und sich vorstellen konnte, man sei auf hoher See und segelte zum Festland von Massachusetts.
Manchmal verbrachte Helen den ganzen Tag an diesem Fenster und sah zu, wie das Wetter gleich einem ruhelosen Maler immer wieder Formen und Farben der Bucht veränderte. Sie mochte es, wenn Wind und Wolken rasch wandernde Muster ins Sumpfgras zeichneten und sich die Luft bei nahender Ebbe mit salzigen, urweltlichen Gerüchen füllte und Armeen von Winkerkrabben über die morastigen Ebenen huschten.
Das von einer Zeitschaltuhr gesteuerte Licht über der Hintertür brannte und wurde von einem Schwarm Mücken und Motten umschwirrt, die offenbar einen Willkommenstanz aufführten und Schatten, fünffach größer als sie selbst, über die kleine Veranda warfen. Helen ließ ihre Tasche vor der Tür fallen. Eigentlich war sie müde von der Reise, aber sie wollte noch rasch einen Spaziergang am Strand machen, um Buzz etwas Auslauf zu gönnen. Außerdem hatte sie keine Lust, gleich ins Haus zu gehen. Es kam Helen so riesig und still vor, seit sie mit dem Hund allein dort wohnte.
Sie folgte dem weiten Bogen des verfallenen Knüppeldamms und ging dann die Stufen hinunter zum Sandstreifen, der sich am Sumpfgras entlang bis ans Ende des Meeresarms zog.
Sie genoss die Brise im Gesicht und atmete tief die salzigeLuft ein. Draußen in der Bucht konnte sie die Lichter eines kleinen Bootes erkennen, das mit der rückkehrenden Flut hinausfuhr. Der abnehmende Mond suchte sich Lücken zwischen den Wolken, und wenn er eine gefunden hatte, warf er eine Lichtstraße über das Wasser. Buzz rannte voraus und blieb nur dann und wann stehen, um das Bein zu heben oder am Strandgut zu schnuppern, das die Flut angeschwemmt hatte.
Als Joel noch hier war, hatten sie jeden Abend vor dem Schlafengehen diesen Spaziergang gemacht. Und anfangs, als ihre Beziehung noch vor erotischer Spannung knisterte, suchten sie sich ein Fleckchen in den Dünen und liebten sich, während Buzz allein loszog, nach Krabben im
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