Im Kreis des Wolfs
gleichzutun, blind für die Menschen, die sie beobachteten.
Helen wollte Joel etwas fragen, doch plötzlich versagte ihr die Stimme; sie hielt mitten im Satz inne und merkte, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Letztes Jahr hatte sie das alles mit großem Staunen betrachtet. Doch der blinde, ungehemmte Überlebenstrieb dieser archaischen Geschöpfe, dieser Trieb, die Gene über Jahrhunderte, über Millionen von Jahren weitergeben zu wollen, diese ungeheure, unerbittliche Macht erfüllte sie nun mit großer Traurigkeit.
Joel sah, wie sich ihr Gesicht verzerrte, watete auf sie zu und nahm sie in die Arme. Sie klammerte sich an ihn und schluchzte an seiner Brust wie ein verzweifeltes Kind.
»Was ist denn?«, fragte er und strich ihr das wirre Haar aus dem Gesicht. »Was ist los?«
»Ich weiß nicht.«
»Erzähl’s mir.«
»Ich weiß nicht.«
»Es ist doch nur für ein Jahr, Helen. Das geht so schnell vorbei. Und nächstes Jahr um diese Zeit sind wir wieder hier und kennzeichnen zusammen unsere Krabben.«
»Mach keine Witze.«
»Das sind keine Witze, ich meine es ernst. Das verspreche ich.«
Sie schaute zu ihm auf, auch er schien den Tränen nahe zu sein.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie.
»Ich liebe dich auch.«
Sie würde nie vergessen, wie er sie in diesem Moment angesehen hatte, verletzlich und irgendwie fremd. Dann lächelte er, und das Bild war verschwunden. Er küsste sie, während die Teufelskrabben zu ihren Füßen sie dicht umdrängten, die schwarzen Panzer hell im Mondlicht.
Er war jetzt seit zwei Monaten fort.
Helen rauchte ihre Zigarette zu Ende und rief Buzz. Er hatte lang genug nach Ratten in der Arche gejagt, und ihr wurde kalt. Sie gingen am Strand entlang zurück.
Am Hintereingang hob sie ihre Tasche auf. Der Willkommenstanz der Mücken war noch in vollem Gange. Buzz bellte sie einige Male an, aber Helen hieß ihn still zu sein und drängte ihn durch die Fliegengittertür in die Küche.
Sie machte kein Licht. Wo sie auch hinsah, alles erinnerte sie an Joel. In einem vergeblichen Versuch, sie davon zu überzeugen, dass er zurückkommen würde, hatte er viele seiner Sachen zurückgelassen. Bücher, ein Paar Stiefel, den tragbaren CD-Player mit den phantastischen Lautsprechern, alle seine Opern-CDs. Doch seit er fortgegangenwar, hatte sie noch nicht den Mut aufgebracht, irgendeine Art von Musik zu hören.
Das rote Licht am Anrufbeantworter zeigte an, dass sie drei Anrufe erhalten hatte. Sie hörte sie im Dunkeln ab und schaute dabei auf den hellen Streifen, den das Mondlicht über die Bucht warf. Ein Anruf war von ihrem Vater, der hoffte, dass sie gut nach Hause gekommen war. Der zweite Anruf kam von Celia, die einfach nur hallo sagen wollte, und der dritte von ihrem alten Freund Dan Prior.
Sie hatte mal eine kurze Affäre mit ihm gehabt, als sie einen Sommer lang auf Spurensuche im Norden von Minnesota gewesen waren. Dan gehörte zu den seltenen Ausnahmen im Katalog der Spinner, mit denen sie sonst ausging, aber die Geschichte mit ihm war trotzdem ein Fehler gewesen. Sie waren wie geschaffen für eine Freundschaft, aber nicht für eine Liebesbeziehung. Und wie fast alle attraktiven Männer war Dan glücklich verheiratet. Schlimmer noch, Helen kannte – und mochte – seine Frau und seine Tochter.
Sie hatten fast drei Jahre nicht mehr miteinander gesprochen, und es tat gut, seine Stimme zu hören. Er sagte, er habe einen Job für sie, oben in Montana. Ob sie ihn zurückrufen könnte.
Helen schaute auf ihre Uhr. Es war Viertel vor eins. Ihr fiel ein, dass sie heute Geburtstag hatte.
7
Dan Prior schlürfte seine dritte Tasse Kaffee, ohne den riesigen Braunbären, der hinter seinem Rücken aufragte, auch nur mit einem Blick zu würdigen. Mann und Bär schauten auf die Tür, in der die ersten verärgerten Passagiere aus SaltLake City auftauchten. Der Flug hatte Verspätung, und Dan wartete bereits seit einer Stunde, nicht ganz so lange also wie der Bär, den man am Freitag, dem dreizehnten Mai 1977, erlegt, ausgestopft und auf die Hinterbeine gestellt hatte, damit er die Besucher von Great Falls erschreckte.
Dan hatte das Wochenende damit zugebracht, die Hütte sauberzumachen, in der Helen wohnen würde, und den Vergaser des alten Pick-up zu reparieren, den er für Helen aufgetrieben hatte. Er konnte nur hoffen, dass sie weder der Zustand der Hütte noch der des Wagens sonderlich schockieren würde. Die Hütte gehörte dem Forest Service und stand an einem kleinen See in
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