Im Kreis des Wolfs
davon überzeugt gewesen, dass sie einen Wolf gefangen hatten. Ihre Träume hatten sie noch nie getrogen.
Bislang hatte sie nicht gewagt, jemandem davon zu erzählen. Es klang zu absurd. Außerdem war es als Frau in der Machowelt der Wolfsforschung schon so schwer genug, auch ohne dass sie sich dem Verdacht aussetzte, meschugge zu sein – ein Ausdruck, mit dem ihre Mutter von der Astrologie bis zur Vitaminpille so ziemlich alles Ungewöhnlicheverächtlich abtat. Und offen gestanden, obwohl Helen nicht daran zweifelte, dass es zwischen Himmel und Erde mehr Dinge gab, als man mit Hilfe eines Mikroskops sehen konnte, zählte sie sich eher zu den Skeptikern.
Nur ihre Wolfsträume waren davon ausgenommen.
In Minnesota hatte es angefangen, kurz nachdem sie gelernt hatte, Fallen zu stellen. Der Traum war jedes Mal anders, und mitunter wirkte er fast real: Sie konnte tatsächlich einen Wolf in der Falle sehen, der auf sie wartete. Dann wieder war der Traum verschleierter, als handle er von etwas völlig anderem. Manchmal hatte sie nur so ein »Wolfsgefühl«, erhaschte nicht mal einen Blick auf das Tier oder sah seinen Schatten, spürte einfach nur, dass es da war. Dabei hatte sie den Traum nicht jedes Mal, wenn sie einen Wolf fing. Sie konnte monatelang Fallen stellen und jede Menge Wölfe fangen, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu träumen. Doch wenn er kam, dann saß am nächsten Morgen unweigerlich ein Wolf in der Falle.
Und als wäre das noch nicht meschugge genug, wachte sie oft auf und wusste genau, in welcher Falle sie ihn finden würde. Manchmal konnte sie die exakte Stelle sehen, dann wiederum war der Traum eher symbolisch und gab ihr nur Hinweise. Es tauchten darin Bäume, Felsen oder Wasser auf, von denen sie ableiten konnte, welche Falle es war. Dieser Teil des Traums war nicht ganz verlässlich. Häufig saß der Wolf auch in einer völlig anderen Falle. Doch ihr Vertrauen in die Wolfsträume war so stark, dass sie sie nie für falsch hielt, sondern nur glaubte, ihre Botschaft missverstanden zu haben.
Die Wissenschaftlerin in Helen rügte sie stets für diesen Unsinn. Sie versuchte sich einzureden, dass es sich bloß um einen Fall von Autosuggestion handelte oder um einen Streich, den ihr Gehirn ihr spielte, eine Art Traum-Déjà-vu,doch hatte sie sich während des Sommers mit Dan Prior insgeheim Notizen über ihre Träume gemacht und mit der Zahl der gefangenen Wölfe verglichen. Der Zusammenhang war unverkennbar. Trotzdem brachte sie nie den Mut auf, mit Dan darüber zu sprechen.
Und jetzt erzählte sie Luke davon, den sie doch kaum kannte.
Sie kletterten die letzten Meter am wild schäumenden Bach hinauf, ehe sich das Land vor ihnen zu jener Ebene weitete, auf der sich die Falle befand. Sie wusste nicht, warum sie ihm davon erzählte, wusste nur, dass sie ihm vertrauen konnte. Sie war fest davon überzeugt, dass er nicht über sie lachen würde.
Er ging neben ihr, sah sie, während er ihr zuhörte, hin und wieder mit seinen ernsten grünen Augen an, achtete aber zumeist darauf, wo er hintrat, denn der Boden war hier ziemlich tückisch. Er hatte sich fast die ganze Geschichte angehört, ohne ein Wort zu sagen. Obwohl sie nicht erwartete, dass er sie auslachte, ertappte sie sich dabei, wie sie in ihre alten Abwehrmechanismen verfiel und so tat, als würde sie das Gesagte nicht so ernst nehmen.
»Es ist wie verhext, wissen Sie? Ich habe schon versucht, von den Lottozahlen oder vom Pferderennen zu träumen, aber das klappt einfach nicht.«
Luke lächelte.
»Also w-w-was haben Sie l-l-letzte Nacht genau geträumt?«
»Nur von einem Wolf, der durch einen Flusslauf watet.« Das stimmte, war aber nicht die ganze Wahrheit, denn der Wolf war mit jener seltsamen Dualität, die Träumen eigen ist, zugleich Joel gewesen, der den Fluss durchquert hatte, fort von ihr, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, ehe er hinter den Bäumen verschwand.
»Also saß er in keiner Falle?«
»Nein, er ist entkommen.«
Helen wartete darauf, dass er etwas sagte, doch er nickte nur und schaute in den Bach, dessen Wasser durch einen Felsspalt donnerte, um dann zehn Meter tiefer in einen brodelnden Kessel zu stürzen.
»Halten Sie mich jetzt für verrückt?«, fragte sie schließlich.
»Natürlich nicht. Ich habe s-s-selbst auch ein paar z-z-ziemlich irre Träume.«
»Tja, aber werden die auch wahr?«
»Nur die schlechten.«
»Träumen Sie von Wölfen?«
»Manchmal.«
Das Wasser toste jetzt so laut, dass sie nicht
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