Im Kühlfach nebenan
Hinweise, die zur Identifizierung des Retters
führen könnten.
Gregor und Martin blickten sich bei der Erwähnung dieser seltsamen Erscheinung tief in die Augen und blickten dann beide genauso
schnell wieder weg. Birgit sagte überhaupt nicht viel, hielt nur Martins Hand und drückte Gregor zum Abschied voller Dankbarkeit
eine volle Minute an sich. Oder zwei. Ich wünschte, ich wäre er. Trotz der angetrockneten Kotze in ihrem Haar. Dann verschwand
sie erst mal im Bad, während Martin einen Beruhigungstee machte. Erst danach fand sie endlich ihre Sprache wieder.
»Diese Stimme im Radio …« Martins Gedanken waren in Alarmbereitschaft. »Gregor sagt, dass die Stimme nach ihm gefragt hat. Und sie hat gesagt, dass
es um Birgit geht.«
Martins Gedanken überschlugen sich, wirbelten durcheinander, wurden immer schneller und wirrer und schafften es nicht, eine
irgendwie sinnvolle Erwiderung zu formulieren.
»Erzähl ihr von mir«, forderte ich ihn auf. »Mach endlich reinen Tisch, dann brauchst du nicht immer so herumzueiern.«
|211| Martin wehrte sich mit aller Macht. »Das ist seltsam«, murmelte er nur.
»Das ist unheimlich«, sagte Birgit. »Ja«, sagte Martin. »Unheimlich.« »Ob das auch so eine, äh, übersinnliche Erscheinung
war wie die Stimmen, die du manchmal hörst?« Martin war eindeutig überfordert. Er traute sich nicht zu antworten aus Angst,
sich dann ganz zu verplappern. Also hielt er die Klappe und zuckte die Schultern. Blödmann.
Birgit ließ den Kopf hängen. »Lass uns abwarten, was die Untersuchungen des Senders ergeben«, sagte Martin. »Am wichtigsten
ist ja, dass dieser Jemand, wer auch immer das war, der Polizei den richtigen Hinweis gegeben hat.«
»Dieser Jemand bin ich«, brüllte ich, aber ich spürte, dass es keinen Zweck hatte. Martin würde Birgit nicht von mir erzählen.
Ich war sauer und verpisste mich. Vielleicht konnte ich mich wenigstens mit Marlene wieder vertragen, wenn schon die Lebenden
nicht bereit waren, mir die nötige Anerkennung zu zollen.
|212| elf
Marlene war in der Klosterkirche und betete. Ordentlich, wie es sich gehörte. Ohne Pöbelei. Allerdings betete sie jetzt auch
wieder zur Jungfrau Maria. Mit Männern hatte sie es wohl nicht so.
»Hallo, Marlene«, sagte ich vorsichtig, als sie endlich fertig war.
»Entschuldige, dass ich dich so angebrüllt habe«, sagte sie.
Ich atmete auf. Einer Versöhnung schien nichts im Weg zu stehen. »Wo hast du dich gestern nach der Beerdigung eigentlich rumgetrieben?
Ich habe dich überall gesucht.« »Im Dom.«
Meine Verblüffung war wohl auch ohne Worte deutlich.
»Ich war noch nie drin gewesen, obwohl ich es mir seit Jahren gewünscht hatte.« »Du hast dreißig Jahre als katholische Nonne
in Köln gelebt und warst noch nie im Dom?«, fragte ich. »Richtig. Aber jetzt habe ich ihn gesehen. Sogar besser, als ich es
zu Lebzeiten gekonnt hätte. Danke übrigens, dass du die Frauen gerettet hast.« »Schon klar«, erwiderte ich locker, aber wenn
ich das wirklich hätte sagen müssen, wäre mir wohl ein Kloß im |213| Hals im Weg gewesen. Marlenes Lob ging runter wie ein kaltes Bier nach einem fettigen Burger.
Sie spürte das. »Du bist gar nicht so übel, wie du immer tust«, sagte sie.
Vorsicht, jetzt quatschte sie aber Blech, das war klar. Ich musste von dem Thema runter. »Wie lange gibt es diese Hilfsstation
eigentlich schon?«, fragte ich.
»Seit dreißig Jahren«, sagte sie stolz. »Ich habe die Einrichtung gegründet.« »Du?«
»Ich war siebzehn, als ich von zu Hause weglief.« Sie flüsterte fast, ich musste mir Mühe geben, sie zu verstehen. »Ich hatte
einen Mann kennengelernt. Einen sehr gut aussehenden Mann. Älter als ich. Er machte mir Komplimente. Gab mir den Eindruck,
erwachsen zu sein. Wichtig zu sein. Etwas, das meine Eltern mir nicht vermitteln konnten. Er lud mich ein, machte mir Geschenke.
Als ich mit einer großen Sporttasche bei ihm auftauchte, freute er sich riesig. Heute weiß ich, warum.«
Ich konnte mir Marlene weder als junges Mädchen noch als verliebtes Häschen vorstellen, aber ich spürte, dass sie die Wahrheit
sagte. »Die Erkenntnis, dass ich an einen Zuhälter geraten war, traf mich wie ein Schlag. Ich brauchte fast ein Jahr, bis
ich den Mut hatte, abzuhauen. Der Herr führte mich hierher.«
»Wie habt ihr das dreißig Jahre geheim halten können?«, fragte ich. »Die Frauen, die zu uns kommen, wissen, dass Geheimhaltung
für sie
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