Im Labyrinth der Abwehr
Denunzianten?"
„Horcher. Das ist unser Ausdruck, er trifft besser zu."
„Gibt es viele davon?"
Reiß erwiderte geheimnisvoll:
„Es sind die persönlichen Kader des Obersturmbannführers."
„Das sind genau die Burschen, die wir brauchen. Ich hoffe, ihr laßt uns einige ab."
„Das hängt vom Obersturmbannführer ab."
Johann legte Reiß seine Hand auf den Rücken und bat:
„Na, in aller Freundschaft, ein paar solcher Burschen, aber kräftige.
Die eben waren ja richtige Hungerleider."
„Nicht alle sind so. Es gibt eine Sorte ‚Kaninchen', die ist ganz schön zäh."
„Die, mit denen medizinische Versuche gemacht werden, brauchen wir nicht."
„Aber nein, die ich meine, sind andere, Kaninchen, die man zur Hetzjagd nimmt, verstehst du? Wir zeigen einem ein Schlupfloch im Zaun, und er überredet eine Gruppe zur Flucht."
Johann fuhr mit den Blicken die Häftlingskolonne ab und bat:
„Zeig mir mal so einen Burschen."
„Da, gegenüber von 730012."
Der Häftling sah wie alle anderen aus, unterschied sich durch nichts Besonderes. Das Gesicht war grau und eingefallen, die Haltung gebückt, mit hängendem Gesäß.
„Der taugt nichts, der ist ziemlich alt."
„Er ist noch keine dreißig. Die sehen hier alle wie Greise aus."
Johann schaute dem Häftling ins Gesicht, doch sein Blick traf nur den gläsernen toten Glanz der Augen, die, wie es schien, ihn nicht sahen, nicht sehen wollten.
Reiß machte eine Bewegung mit dem Finger und rief:
»7400141"
Der Blockführer rief laut: „740014 zum Herrn Untersturmführer!"
Mit festem und exaktem Schritt kam aus der Kolonne ein bis zum Skelett abgemagerter Mann hervor, riß seine gestreifte Stoffmütze vom Kopf und nahm Haltung an.
„Sprich mit ihm, wenn du willst", erlaubte Reiß.
Johann fragte laut und deutlich auf russisch:
„Sind Sie bereit, Ihr Vaterland abzuschreiben und im Interesse des Sieges Groß-Deutschlands und zum Ruhme des Führers für uns zu arbeiten?"
„Ich verstehe nicht."
„Spreche ich so schlecht Russisch?"
„Ich verstehe nicht."
„Sie wollen nicht verstehen?"
Der Häftling schwieg.
Reiß fragte beunruhigt:
„Was hat er gesagt?"
„Er will es sich überlegen."
„Sag ihm, daß ich schon die ganze Zeit überlege, ob man ihn nicht im Sonderblock kurieren soll, er sieht schlecht aus."
Johann übersetzte.
Das Gesicht des Häftlings wurde noch grauer. Er lächelte verzerrt. Dann sagte er heiser:
„Ist klar."
„Was ist klar?" fragte Johann.
„Alles."
„Marsch!" befahl Reiß, und zu dem herbeispringenden Blockführer erklärte er nachlässig: „Fertigmachen."
„Einen Augenblick”, sagte Johann, „den möchte ich selbst übernehmen."
„Kommando zurück!" befahl Reiß dem Blockführer.
Mit ihren hölzernen Sohlen über den Platz klappernd, zerstreuten sich die Häftlinge in die Baracken.
Reiß machte vorsichtige Schritte, um nicht in die Pfützen zu treten, und sagte:
„Wir sind ein gesiebtes Lager. Wir bekommen das Material erst nach der großen Siebung, und trotzdem sind Kommunisten darunter." „Gibt es augenblicklich Verdächtige?"
„Ja, und nicht wenige."
„Du sagst mir nachher ihre Nummern, damit ich keine unnütze Zeit verliere."
Johann ging über den Platz und überlegte seine nächsten Schritte. Da gab es Schwache im Lager und wieder andere, Willensstarke, die ein Höchstmaß an Unterwerfung zeigten, um sich dann, im Augenblick des Todes, aufzurichten und wieder Mensch zu werden. Diese Menschen mußte man finden. Sie waren für die Sache, der Johann diente, kostbar. Doch wie sollte er sie finden?
Da war zum Beispiel die Nummer 740014. Was war das für ein Mensch? Würde er jetzt, wenn Johann ihn vornahm, die Wahrheit sagen? Wenn er sich vorher nicht durch Verrat freigekauft hatte, warum sollte er es jetzt tun? Oder würde er lügen, um am Leben zu bleiben? Man mußte mit ihm unter vier Augen sprechen. Vielleicht hatte er nur vor den anderen Häftlingen Angst? Sogar die raffinierte Methode, die Häftlinge zu mischen, schützte die Denunzianten nicht vor der Strafe: Oft wurden sie an abgelegenen Stellen tot aufgefunden. Das hieß, daß irgend jemand hier die Verräter bestrafte. Und da ein einzelner das nicht vermochte, mußte es eine organisierte Bewegung geben.
Dietrich forderte Weiß auf, sich mit der Kartei zu befassen.
„Ich habe die Personalakten durchgesehen und eine Liste zusammengestellt. Du stellst auch eine Liste auf. Wenn wir beide zu denselben Nummern kommen, ist es gut — zwei
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