Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Labyrinth der Fugge

Im Labyrinth der Fugge

Titel: Im Labyrinth der Fugge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Abe
Vom Netzwerk:
Krämpfe kriegen. Fast hätte sie mitten im Choral laut aufgelacht.
    Aber nach Sidonia war sie die Älteste, und sie würde ihre Schwestern auch gegen ihren Willen befreien, wenn es sein musste.
     
    Trotz aller Mühsal und Grübelei, angefüllt mit Arbeit und Unterrichten, verflogen die Wochen. Anna beobachtete Virginia, wie sie mit Inbrunst am Chor teilnahm. Das Redeverbot kam ihnen beiden gelegen, seit jener Nacht sprachen sie nur noch das Notwendigste miteinander. Mechthilds Husten wurde nicht schlimmer, aber auch nicht besser. Ihre kleine Schwester sprach nicht mehr. Mit ernsten, großen Augen las sie Anna die Worte von den Lippen, erwiderte aber nichts, sondern hustete nur in die hohle Hand.
     
    Der Sommer kam früh und Anna genoss die Kühle des Morgens bei der Gartenarbeit, dem Schneckenabsammeln und Unkraut zupfen. Es war besser als die stickige Arbeit im Schweinestall, wo sie, von Fliegenschwärmen umhüllt, kaum noch Luft bekam. Um die siebenfache Schnur hatte sie noch eine achte geschlungen.
    Die Beterei richtete sich nach den kirchlichen Hochämtern und jetzt im Sommer war auch eine Rast eingelegt worden. So wunderte sich Anna, dass am ersten Abend des Erntemonats drei große Zuber für ein Bad in der Klosterküche aufgestellt wurden. Das letzte Mal war es an Ostern vor der Auferstehung erlaubt gewesen. Je zehn Mädchen durften sich in ein und demselben Wasser den Schweiß und Schmutz vieler Wochen abwaschen. Anschließend bekamen sie neue Kleidung zugeteilt. Die Chorsängerinnen erhielten gebleichte Kittel aus Barchent. Anna fiel auf, als sie ihre Schwester nackt sah, dass sie zwar gewachsen, aber keineswegs magerer geworden war, wie die meisten hier. Dabei lernte Virginia selbst beim Essen die endlos langen Choräle auswendig und vergaß ihre Suppe dabei. Bekamen die Chormädchen Sonderzuteilungen? Virginias Kinn versank im Hals und ihre Brüste wurden von Bauchringen überragt, als sie in den Zuber stieg.
     
    Am Sonntag strahlte Virginia blass und erhaben wie ein wohlgenährter Engel in dem weißen Kleid zwischen den anderen Sängerinnen im Altarraum. Anna machte sich nicht die Mühe, dem lateinischen Gesinge zu folgen. Sie setzte sich wie immer neben Ruth in die Bank und senkte ihren Kopf in die gefalteten Hände, strich sich mit dem Daumen über den kleinen Knubbel, der von ihrem Nasenbeinbruch übrig geblieben war. Sie mied es, sich im Wasserspiegelbild zu betrachten: Was war, wenn ihre Nase wirklich schief zusammengewachsen war? Mit dem Sprechen des ersten Psalms schloss sie die Augen und vertiefte sich in ihre Geschichtenwelt. Genau da, wo sie bei der letzten Hore aufgehört hatte. In Gedanken ging sie die Nischen der Bibliothek ihres Vaters ab, stellte sich die Bücher, eines nach dem anderen, vor, zog eines heraus und versuchte sich an die Geschichte darin zu erinnern. Sie fügte die Buchstaben zusammen und ließ die Bilder der Buchmalerei entstehen, als würde sie sie selbst mit einem Pinsel in der Hand malen. So ertrug sie die ewigen Litaneien halbwegs.
     
    Eine Stimme durchbrach ihre Gedankenreise. Ein Gesang so rein und klar, dass ihr ganz warm wurde. Jedes Wort schwebte im Gewölbe und bohrte sich mit Süße und Schmerz zugleich unter die Haut. Ein Lied auf deutsch.
    »Sie singt in Zungen«, wisperten die Nonnen. Anna sah auf. Manche seufzten und sanken nieder.
    Neben dem kerzenbeleuchteten Altar sang Virginia allein mit ihrer kraftvollen hellen Stimme ein nie gehörtes Lied. Anna lauschte, auch wenn sie nicht alles verstand, weil Viriginia manche Laute dehnte und andere verschluckte, so kamen ihr die Worte bekannt vor. Virginia sang, als wäre ihr ganzes Leben in dem Lied enthalten. Es erzählte von einer Maid, die alles ablehnte, was ihr begegnete, weil sie ihr Hunger vorwärtstrieb. Immer, wenn sie kurz davor ist, einen Fladen zu ergattern, schnappte ein anderer ihn weg. Anna erinnerte sich, dass ihre Mutter ihnen, als sie noch klein waren, auf italienisch ein ähnliches, lustiges Lied vorgesungen hatte. Virginias Fassung war traurig. Der Kehrreim lautete : ›Gott vergib mir, ich will mehr, un-stillbar groß ist mein Hun-gäär‹. Tränen kitzelten Annas Nase. Virginia entfloh der Beterei. So wie Anna im Kopf in die verlorenen Bücher eintauchte, erfand ihre Schwester Lieder.
    »Eine Oblata«, rief eine Nonne, als Virginia verstummt war. »Wir haben wieder eine Gottgeweihte unter uns.« Viele streckten dankend die Arme zur Decke und schlugen ein Kreuz. Virginias Lied hallte

Weitere Kostenlose Bücher