Im Labyrinth der Fugge
während der übrigen Messe noch immer im Gewölbe. Wenn sie herausfand zu was Mechthild neigte, könnte vielleicht auch sie dem stundenlangen Knien und Beten entrinnen, bevor ihre Sinne ganz zerstört waren oder sie sich zu Tode hustete.
»Anna.« Jemand stupste sie. Die Messe war zu Ende. Sie sollten ins Refektorium gehen. Doch es war nicht Ruth, sondern Virginia, die sich zu Anna in die Bank beugte. »Such nach dem Brot im Korb. Ich habe was herausgefunden.«
Ein Summen und Zischeln erfüllte das Refektorium. Virginias Gesang hatte auch die Zungen der anderen gelöst. Selbst die Nonnen hinter dem verschnörkelten Eisengitter, das den Speisesaal von den Mädchen trennte, redeten und achteten nicht auf die Mädchen, die zwar leise, aber dennoch gelöster als sonst tuschelten. Die Äbtissin fütterte ihr Hündchen und musterte Anna einen Augenblick. Viele steckten die Köpfe zusammen und deuteten auf sie, als sie sich bei der Essensverteilung anstellte.
»Das ist doch die Schwester der Oblata, diese Fuggerin.« Anna musste sich ein Grinsen verkneifen. Endlich hatte Virginia mit ihrer Musik Herzen erweicht, sogar Steinbrocken im Kuttenpfuhl. Wo war sie eigentlich? Anna suchte die Reihen ab. Vielleicht speiste sie mit den anderen Chormädchen, doch die steckten an einem Tisch die Köpfe zusammen wie eine Horde Gänse um einen Grasbüschel. War Virginia darunter?
»Deine Schwester hat es gut. Bestimmt muss sie weniger arbeiten, damit sie ihre Stimme schont«, sagte Ruth hinter ihr.
War es das, was Virginia herausgefunden hatte, dass man so der Schikane entkam? Oder vielleicht war ihr etwas eingefallen, wie sie alle zusammen ausbrechen konnten.
Nimm dir ein Brot, sagte sie. War es nur eine Anspielung auf das Brot aus ihrem Lied? Hieß das, sie sollte sich in Geduld üben, erst mal essen und abwarten? Aber Virginia sprach nie in Bildern, so wie es Anna in Geschichten liebte. Bücher interessierten ihre Schwester nur, wenn Noten darin aufgeschrieben waren.
Anna beugte sich weit in den Brotkorb und wühlte. Auf dem geflochtenen Boden lagen noch einzelne alte Krumen. Sie griff hinein, tastete darin herum und ergatterte ein kleines rundes. Sie wunderte sich, warum es noch keiner genommen hatte. Doch als sie es im Licht betrachtete, sah sie, dass es ganz mit weißem Schimmel überzogen war, bis auf eine schwarze Einkerbung in der Mitte. Ein V für Virginia hatte sie in ihr Liebeszauberbrot geschnitten. Anna ließ es schnell im Ärmel verschwinden und schluckte gegen den Herzschlag an, der ihr plötzlich bis in den Hals hinauf pochte.
Sie gab vor, auf den Abtritt zu müssen, deutete Ruth, hier zu bleiben, und lief aus dem Refektorium.
Im Mädchendormitorium schlug ein Fensterviereck zu. Die dünnen Decken auf den vielen Betten waren ordentlich gefaltet, denn auch für Schlampigkeit wurde man bestraft. Nirgends war Virginia zu sehen. Anna ging die Betten entlang, Virginias war das vierte, nein, das fünfte von der Wand aus. Aber weder auf, noch unterm Bett war ein Kleidungsstück oder eine Haarnadel ihrer Schwester. Alles war sauber gekehrt und aufgeräumt. Anna setzte sich und zog das Liebeszauberbrot aus dem Ärmel. Sie kratzte den Schimmel ab und roch daran, erinnerte sich, wie sie sich mit ihren Schwestern nackt auf den Körner gerollt hatte. Damals, als sie noch Träume hatten. Wenigstens konnte Virginia etwas von zu Hause mitnehmen. Sie selbst hatte nur an sich gedacht, an ein Buch oder Malzeug und am Ende aus Trotz gar nichts eingepackt. Doch ihre Schwester nahm das Brot als Zeichen ihre Verbundenheit mit. Und sie hielt Virginia für herzlos. Anna schob das Brot in ihr Unterkleid, da würde sie es nicht verlieren, trat ans Fenster und öffnete das Viereck wieder. Warme Sommerluft strömte ihr ins Gesicht. Von hier konnte man über die Felder und Wiesen sehen, deren Zehnten die Bauern dem Kloster abgaben. Auf der anderen Seite ragte der halb fertige Kirchturm auf, von Gerüsten umgeben.
Wenn sie aus den Decken nachts ein Seil knotete und sich hier hinunterließen? Doch dazu müssten sie das ganze Fenster einschlagen, durch das kleine Viereck konnte Anna nur ihren Kopf zwängen. Zwischen Mörtelkübeln und Schalungsbrettern hing ein weißer Stofffetzen wie von einem Unterkleid. Anna erstarrte. Nackte Füße auf dem Bauschutt, verdrehte Glieder, Virginia. Nein!
12. Die Krebsbutter
Keiner hatte ihn gesehen und keiner würde wissen, dass er überhaupt im Kloster gewesen war. Eigentlich wollte er die
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