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Im Labyrinth der Fugge

Im Labyrinth der Fugge

Titel: Im Labyrinth der Fugge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Abe
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wie Canisius, hatte Virginia gewusst, dass sie sterben sollte? Bedeutete das andere C vielleicht Christus? W wie …, Anna kannte niemanden, dessen Name mit W begann, R wie Raymund, ihr Bruder, oder war ihr Großvater gemeint? Es mussten keine Anfangsbuchstaben von Namen sein, vielleicht waren es Wortkürzel.
    Anna drehte den Zettel, aus dem W wurde ein M, M wie Maria oder Mechthild, aber so waren die anderen Buchstaben spiegelverkehrt. Sie hielt den Zettel in die Mauerlücke. Auch spiegelverkehrt ergab es keinen Sinn. Anna wischte sich die Tränen fort, trotz allem musste sie lächeln. Ihre jüngere Schwester hatte eine Botschaft verschlüsselt, einfach so, ohne dass sie, stundenlang wie Anna, über einem halb verkohlten Buch grübelte. Hatte sie gewusst, dass Anna dieses Geheimschriftenbuch gefunden hatte, es auf ihrem Schreibpult liegen sehen? Sie ging in Gedanken die Codierungen durch: Einen Selbstlaut einfügen, davon gab es ja nur fünf. CaC, CiC, CoC …, CaW, CeW …, CiR, CuR, CoR …, WaR, WiR. War und Wir klangen als einziges nach existierenden Worten. Der lang gezogene Strich des Kreuzes könnte ein I sein. Canisius, Christus und wir. Dass sie alle katholisch gemacht wurden, war kein Geheimnis mehr. Es musste etwas anderes bedeuten, etwas so Schreckliches, dass sie es in dem Brot versteckte. Auf die Gefahr hin, eine andere hätte es genommen, hätte es aber dann nicht entschlüsseln können. Was hatte sie herausgefunden, hier in Kühbach? Einen Fluchtweg und der Zettel war eine Karte aus dem Kloster? Wenn das Kreuz den Kreuzweg darstellte, ringsum die überdachten Gänge, hatten die Namen? Gab es da irgendwelche Geheimtüren? Anna seufzte und wischte sich das Blut von der Nase. Das Kreuz konnte auch für Kirche stehen, den Kirchturm vielleicht – hatte Virginia ihren Tod geplant und sollten sie alle springen, bevor sie abgestumpfte Betpuppen wurden?
     
    Anna steckte den Zettel in ihren Ausschnitt, als die Karzertür entriegelt wurde. Die Winznonne brachte das Essen. Wieso schob sie die Suppe nicht durch die Klappe? Doch Anna war es gleich, sie würde nicht nach draußen laufen. Langsam näherte sich die Kleine, so als würde sie ein wildes Tier füttern, das wieder lostoben konnte. Dabei hielt sie den Blick auf Annas Hals gesenkt. Sie stellte den Suppennapf neben ihr ab und griff nach ihr. Anna zuckte zurück. Wollte sie sie erwürgen? Nein, die Winznonne zog an der Kette, betrachtete den Affenanhänger mit kleinen Kinderfingern und ahmte dabei allerlei Tiere nach.
    »Ein Affe«, erklärte Anna. »Ich hatte mal einen, ein Weibchen, Donna hieß sie und sah genau so aus.«
    Die Kleine schwieg, runzelte die Brauen und musterte Anna lange, so als würde sie ihr nicht glauben. Sanft löste Anna ihre Finger von der Kette, bevor sie zerriss. Die Winznonne nahm den Löffel aus der Suppe und kratzte damit auf der Wand herum. Erst dachte Anna, sie versuchte einen Affen zu zeichnen, doch dann sah es eher wie ein schmales Haus mit Spitzdach aus. Ein Turm, ganz oben ein großes Fenster, darin ein Kreis, Augen, Nase, Mund, ein sehr breiter Mund mit Zickzacklinien, sollten das Zähne sein? Die Kleine war nicht nur gescheit, was die Sprache der Tiere betraf, sie konnte auch gut zeichnen. Neben den Turm kratzte sie einen Vogel, nein eine weitere Figur in einem Kleid, nur war der Kopf unten anstatt oben.
    Plötzlich begriff Anna. »Warst du etwa dabei …, hast gesehen, wie …, wie Virginia vom Turm fiel?«
    Die Kleine nickte, stülpte ihre Zähne über die Unterlippe und zeigte dann auf die gezeichnete Fratze im Turm.
    »Canisius?«
    Die Kleine nickte wieder.
    »Du meinst, er hat …, hat sie hinuntergeschubst?«
    Die Winznonne legte den Finger an den Mund, aber Anna wollte nicht schweigen. »Von wo aus hast du das beobachtet? Wieso hat er es getan?«
     
    Sie hörten eine Tür. Die Winznonne lief aus dem Karzer und verriegelte ihn wieder. Nein, das durfte nicht sein. Erst Schellebelle, jetzt Virginia, wie viele hatte der Pater noch auf dem Gewissen? Das Kreuz auf dem Zettel, ein C für Canisius und wir darunter, sie sollten sterben, einer nach dem anderen, endlich begriff sie es. Hastig steckte Anna den Zettel ins Unterkleid.
     
    »Dein Weg ist hier zu Ende«, sagte die Aufsichtsnonne. Es war so weit. Obwohl sie wusste, dass sie dem Tod entgegenging, war sie ganz ruhig. Einzig der Gedanke an Mechthild und ihre Brüder lähmte sie. Wie konnten ihre Eltern dies alles nur zulassen? An der Liebe ihres Vaters

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