Im Labyrinth der Fugge
bevor die Fahrt weiterging. Eine Henkersmahlzeit? Oder war er nicht ihr Mörder, erledigte das Stinkbeutel lieber selbst? Auch wenn es nicht Augsburg war, sobald sie die Stadt auf dem Hügel erreichten, würde sie flüchten. Der Wind wirbelte Sand auf. Sie rieb sich die Augen und kauerte sich wieder zu den Gänsen, die auffällig unruhig waren. Sie reckten ihre Hälse weit aus den Gitterstäben und schnatterten ohrenbetäubend. Spürten sie den schnellen Wetterumschwung? Über der fernen Stadt stieg eine riesige gelbschwarze Wolke auf und Blitze zuckten. Vor ihnen lag ein Wald. Nur der noch, flehte Anna, dann auf den Hügel, auch wenn sie klitschnass dort ankommen würde.
Der Fuhrknecht trieb das Maultier an einem Gehöft vorbei, dessen Fenster eine Frau mit Brettern zustellte. Ihr und Annas Blick begegneten sich.
Plötzlich hielt die Karre, der Knecht sprang vom Bock und verschwand zwischen den ersten Bäumen.
Jetzt oder nie, dachte Anna, und sprang vom Wagen. Sie lief den Weg zum Haus zurück. Die ersten Tropfen prasselten herab.
»Bleib stehen, Kind!«, hörte sie ihn rufen. Er rannte ihr hinterher und nestelte hastig die Hose zu. »Was sag ich, wenn ich ohne dich ankomme?«
Die Frau in dem Gehöft, sie hatte doch ein bisschen wie Schellebelle ausgesehen. Anna rannte. Sie konnte die Tür sehen. Jemand trat heraus, ein Schemen von einem großen Hageren. Er breitete die Arme aus. Anna verlangsamte und blieb stehen. War etwa alles abgesprochen? Sollte sie dorthin laufen? Sie strauchelte und ließ sich fallen. Der Regen wurde dichter, die Tropfen feiner. Ringsum schwamm Staub auf den Pfützen. Der Fuhrknecht hatte sie fast erreicht, da bellte ein Hund. Doch es kam nicht aus dem Gehöft, sondern aus der Richtung des Waldes. Dann miaute etwas und ein Vogel zwitscherte. Auch die Gänse schnatterten wieder. Waren noch mehr Tiere in den Körben versteckt und sie hatte es die ganze Fahrt über nicht bemerkt? Anna sah zum Wagen zurück. Aus einem der Säcke schaute ein Kopf heraus. Die Winznonne.
»Mädchen, Mädchen«, keuchte der Fahrer und zog sie aus dem Matsch. »Was haben die mit euch im Kloster nur angestellt.«
»Tu Er es«, sagte sie. »Töte Er mich.«
»Töten?« Er wich zurück. »Ich habe nicht vor, dich umzubringen. Ich soll dich in Augsburg abliefern, das ist alles. Wie kommst du darauf? Wenigstens bist du nicht stumm, wie ich dachte. Also komm.«
Er führte sie zur Karre zurück, hatte Mühe gegen den stärker werdenden Wind und den peitschenden Regen anzugehen. »Man meint ja fast, der jüngste Tag sei gekommen. Nimm zwei Schaffelle aus dem Korb da und decke auch die Gänse ab. Dann lass uns im Dickicht des Waldes Zuflucht finden.« Er hob sie auf den Wagen, klappte sich den Kragen seines Mantels hoch und zog den Hut ins Gesicht, bevor er das Maultier tiefer in den Wald trieb. Der Regen ging in Hagel über.
Unter den Fellen tastete sie nach den Händen der Winznonne, zog sie samt Sack, in dem sie sich versteckte, zu sich. Wie hatte sie es angestellt, unbemerkt auf den Wagen zu klettern, und die vielen Stunden, die sie nun schon unterwegs waren, keinen Mucks von sich zu geben? Dicht aneinandergedrängt, verharrten sie zusammen mit den Gänsen unter wispernden Daxen. Der Wald rauschte, Hagelkörner trommelten herab, die Bäume ächzten und ab und zu brach ein Ast.
Doch so schnell wie das Unwetter heraufgezogen war, flaute es ab. »Versteck dich wieder«, flüsterte Anna der Winznonne zu, bevor sie aus dem Fell schlüpfte und eine Eisschicht abwarf.
»Alles in Ordnung?« Der Fuhrknecht kroch unter der Karre heraus und führte das Maultier aus den Fichten zurück auf den Pfad.
Als sie die Lechbrücke überquerten, sah sie tote Hühner und sogar ein Schwein zwischen Trümmern im schäumenden Wasser treiben. Die Uferränder des Lechs säumte der Hagel wie ein weißes Perlmuster. Mitten im Sommer war es Winter geworden.
Sie passierten das Rote Tor zu Augsburg. Überall lagen eigroße Eisbrocken auf dem Pflaster. Die Fuhrwerke stauten sich, weil die Gassen erst von herabgefallenen Ziegeln und zerstörten Einrichtungen geräumt werden mussten.
»Die Welt geht unter und der Satan lässt uns jämmerlich schmoren im Höllental«, wetterte eine Alte und schwang ihren Besen gegen den immer noch graugelben Himmel.
In den vertrauten Stadtmauern fragte Anna sich, ob sie einfach nur nach Hause gebracht wurde und der Klosterspuk mit einem Schlag vorbei war wie das Unwetter. Hatte Virginias Tod das
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