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Im Labyrinth der Fugge

Im Labyrinth der Fugge

Titel: Im Labyrinth der Fugge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Abe
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Dann würden sie ein Geburtstagslied singen, alle zusammen, die brummige Stimme ihres Vaters, die schrille hohe ihrer Mutter, die schnatternde von Mechthild, das Piepsstimmchen von Albert, die reine kräftige Stimme von Sidonia und die sanfte helle von Virginia. Anton und Raymund würden auch noch mitsingen, Philipp und Oktavian kaum. Was war los? Sie hielt es nicht mehr aus, lauschte an der Tür, setzte sich an ihren Frisiertisch und öffnete ihre Zöpfe.
    Ihre langen hellbraunen Haare flossen in Wellen fast bis zum Boden den Rücken hinab, wenn sie saß. Das silberne Spiegeltischchen hatte ihr Vater zum zwölften Geburtstag aus Venedig mitgebracht. Wie immer erzählte er ihr eine Geschichte dazu. Einst gehörte der Spiegel einem der schönsten Mädchen von ganz Venedig, das sein Vater an einen reichen Mann verkaufte. Das Mädchen lähmte dieselbe Krankheit, an der bereits ihre Mutter gestorben war, langsam von den Füßen aufwärts. Und als sie ihre Hände nicht mehr rühren konnte, beauftragte ihr Mann einen Schreiner, er solle den Spiegel in einen Tisch fassen. Doch das Mädchen wollte ihre Starre nicht mehr im Spiegel betrachten, wenn man sie davor setzte, und so schenkte sie das Tischchen dem deutschen Kaufmann, der ihr von seiner klugen und schönen Tochter erzählte. Vater mit seinen Geschichten, bestimmt hatte er nur Severin beauftragt, schnell ein Geschenk zu besorgen und sich dann das Märchen dazu ausgedacht. Aber manchmal dachte sie an das gelähmte Mädchen, stellte sich vor, wie es war, sich nicht rühren zu können und allein im Kopf zu wohnen. Klug genug, um immer nach Wissen zu gieren war Anna, aber schön? Ihre Nase war ihrer Meinung nach etwas zu lang und zu spitz, ihr Mund zu klein und ihre Augen zu grün, aber zusammen mit ihrer langen braunen Mähne gefiel sie sich selbst und unterschied sich von den weißblonden Haaren ihrer Mutter. Sie legte ihre Zöpfe heute vor den Ohren zu zwei Schaukeln und band sie mit einer Schleife zusammen.
    Rasch, sie musste sich ankleiden. Bestimmt überraschte ihre Familie sie in der Küche. Möglicherweise war es mit vierzehn nicht mehr schicklich, wie ein Kind im Bett zu warten, um geweckt zu werden. Anna stand auf, immer noch lauschend, bereit, gleich wieder ins Bett zu springen, falls sie doch noch kämen. Sie zog sich an und öffnete leise die Tür. Hatten sich Philipp und Octavian wieder etwas ausgedacht? Wegen seiner geprellten Hand konnte Philipp die Bäume und Hecken nicht selbst schneiden, scheuchte den Gärtner mit lauten Befehlen herum und war im Haus kaum noch zu ertragen. Wahrscheinlich standen ihre Brüder an der Wand geduckt und erschreckten sie gleich. Aber da war keiner. Zeit, mit den kindlichen Ritualen zu brechen. Sie ging hinunter, beschloss so zu tun, als hätte sie ihren eigenen Geburtstag vergessen.
    Im Speisesalon beachtete sie keiner. Es roch nach frischem Brot und gebratenen Eiern. Der Tisch war gedeckt wie immer, ein Teil der Teller benutzt und Elisa, die neue Küchenmagd, stellte sie gerade zusammen. Sie knickste und fragte, ob Anna Milch wünsche.
    »Wo sind sie alle?«, fragte Anna.
    »Die Contesse haben Anprobe. Die Gräfinmutter ist mit Albert beim Schuhmacher. Da kommt sie gerade.« Elisa lief zum Fenster. »Eure übrigen Geschwister sind im Garten oder bei den Pferden, glaube ich.« Sie knickste und fuhr mit ihrer Arbeit fort.
    Am Tisch war kein besonderes Gedeck für Anna wie an Geburtstagen üblich und auch kein Geschenk. In den Schubladen suchte Mutter nach ihrem Fächer, ließ sich schnaufend in einen Polsterstuhl fallen und fächelte sich Luft zu.
    Anna mied ihren Blick, bröckelte Brot in die warme Milch und aß schweigend.
    »Wo warst du so lange? Los, beeil dich, was frühstückst du noch? Sidonia ist längst bei der Anprobe. Es ist sowieso besser, wenn du keinen vollen Magen hast«, ermahnte sie ihre Mutter.
    Sie hatte wirklich ihren Geburtstag vergessen! Wie konnte sie nur? Eine Geburt, und hatte man als Frau noch so oft geboren, vergaß man doch nicht. War Anna am Ende ein Findelkind und nicht von dieser Frau geboren worden? Der Gedanke gefiel ihr. Auch wenn ihr Spiegelbild etwas anderes verriet.
    »Die Kutsche wartet«, trieb Ursula sie an.
    In der Tür drehte sich Anna um und sagte: »Weißt du, welcher Tag heute ist?«
    »Falls du deinen Geburtstag meinst, an den erinnere ich mich deutlichst. Ich trage heute noch Blessuren von deiner Geburt. Mit der Hand neben dem Kopf hast du dich aus mir heraus gezwängt, die

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