Im Labyrinth der Fugge
Vom Boden schmeckte es auch nicht anders als aus dem Napf. Ihr Magen knurrte immer noch, aber ihr Durst war fürs Erste gestillt. Nun lauschte sie Stunde um Stunde auf das Scharren an der Klappe, mied es an die Tische-biegenden-Gelage im Haus ihrer Eltern zu denken, das Büfett beim Geschlechtertanz, wo sie mit Virginia noch bis zur Übelkeit genascht hatte und dann Heinrich rettete. Heinrich, das war ein Denken ohne Hunger und Durst. Wie ging es ihm? Wenn er damals so alt wie Albert gewesen war, war er jetzt fünf oder sechs, hatte vielleicht Geschwister bekommen. Sie musste lächeln, als sie an seine Liebeserklärung dachte, es hatte so bestimmt geklungen. Vielleicht, dachte sie und drehte an dem Ring, mit dem Canisius ihr ein Versprechen abverlangt hatte, hatte Heinrich seine Eltern belauscht, als sein Vater seiner jungen Mutter solche Liebe schwor und wollte es einmal selbst erproben. Ach, es wäre schön, wenn es wirklich einen Liebsten für sie gäbe, der draußen auf sie wartete.
Der Himmel verdunkelte sich zur sternenlosen Nacht. Anna spielte immer noch mit dem Ring, zog ihn ab und warf ihn in die Ecke, wo sie im Finstern das Abtrittloch vermutete. Jetzt gab es kein Versprechen mehr. Sie rollte sich zusammen und rief sich Heinrichs klares Antlitz herbei.
Ein Klopfen weckte sie. Einzelne Sonnenstrahlen schoben sich durch das Mauerloch.
»Ja«, rief sie. Ihre Stimme quietschte, als würde sie sich die Nase zuhalten. Sie rief noch mal. Die Klappe öffnete sich, doch als sie die Finger dazwischenschieben wollte, schloss sich die Klappe sogleich und die da draußen klopfte wieder. Endlich begriff sie, dass sie nur den Napf hinausschieben sollte. Sie tat es, drückte mit der Faust die Klappe auf, dann kauerte sie sich auf den Boden und spähte hinaus.
Der Saum einer Kutte. Es raschelte. Kurze, dünne Finger hielten die Klappe nach oben. Anna rechnete mit einem Schlag oder einem Tritt auf ihre Faust, damit wieder geschlossen werden konnte. Sie verrenkte sich fast den Hals, um an der Nonne hinaufzusehen, konnte nur den kleinen Schleier erspähen, der ihr Gesicht und ihre Kinnspitze umrahmte. Eine Zwergin?
Die Winznonne füllte den Napf aus einem großen Tiegel und bückte sich. Warme Suppe schwappte Anna ins Gesicht.
Die Klappe fiel zurück.
»He, bleibt da und sprecht mit mir!«, rief sie nach draußen, während sie die Suppe verschlang. Zwischen ihrem Schlucken und Schmatzen versuchte sie zu lauschen, ob sie Schritte hörte.
Etwas miaute. Wollte eine Katze herein? Würde sie durch die Klappe passen? Anna schob sie auf. Doch sie sah wieder nur die Saumkante der kleinen Kutte.
»Zeigt mir bitte die Katze. Schnurrt sie?« Anna presste ihren Kopf an die Ritzen und vernahm tatsächlich grollendes Schnurren. Es musste ein großer Kater sein, den die Winznonne auf dem Arm hatte. Dann erklang Gezwitscher. Saß ein Vogel im Luftloch, sie wandte sich um. Da war nichts, außer die flirrenden Sonnenstrahlen. Der Vogel sang eine Melodie. Es hörte sich traurig an, wie Virginias Xocolatl-Lied.
»Welcher Vogel ist das? Eine Amsel?«, fragte sie. Die Antwort war ein Bellen, das sie zusammenzucken ließ, dann winselte der Hund, wie das Schoßhündchen der Obernonne. War Anna im Stall untergebracht? Ein Stall mit Hunden, Katzen und Vögeln? »Ist das Hündchen der …, der Äbtissin bei dir?«, fragte sie.
Die kleine Nonne kniete sich zu ihr nieder, musterte sie und kaute dabei auf den Lippen. Keine Zwergin, ein Kindergesicht voller Tupfen, auch die Hände waren mit rotbraunen Sommersprossen übersät.
»Meine Schwester, also meine kleinste Schwester hat dir ähnlich gesehen. Maria hieß sie und wie heißt du?« Doch das Mädchen schwieg, bewegte ihre Lippen, als würde ihr ihr Name nicht einfallen.
Anna musste etwas tun, damit sie bei ihr blieb. Ihr fiel ein Fingerspiel ein, das Mechthild so gern mochte. Sie verschränkte die Hände ineinander wie zu einem Tor, die Daumen stellten zwei Schweine dar, die in einem Reim auf Futter warteten. Das Tor sprang auf und die Schweinchen platschten mit einem Händeklatscher in den unsichtbaren Trog. Die Winznonne grunzte und quiekte, wie zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Sie hörten Schritte, schnell raffte sich die Kleine auf, zog die Klappe zu und verriegelte sie von außen. Anna war wieder allein.
7. Die Hautkrone
Philipp und Jeremias lieferten sich einen Wettstreit, wer beim donnerstäglichen Austausch am meisten Novitäten in der ›Löwentatze‹ vortrug. Neben
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