Im Labyrinth der Fugge
sie doch eine Besessene, so wie es Canisius beschrieben hatte? Nein, und nochmals nein. Sie schlug auf ihre Brust, ihren Leib ein, klopfte sich ab, bis das Krabbeln aufhörte. Als sich ihr Herzschlag wieder beruhigt hatte, lehnte sie sich zurück und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Sidonia. Warum war sie nicht in die Kutsche gepfercht worden?
Anna umklammerte den Kettenanhänger. Arme Donna. Kein Jahr war das Äffchen bei ihr gewesen. Hoffentlich hatte Sidonia sie wenigstens begraben.
Ich will hier raus, keuchte sie, verkniff es sich aber zu schreien.
Gebt mir ein Kreuz und ich küsse es! Gebt mir alle Kreuze, alle besudelten, muffigen Kruzifixe, die ihr in diesem Kloster oder unter euren Röcken verbergt. Ich küsse sie alle, lecke sie ab von oben bis unten, von hinten bis vorne, wenn es sein muss, nur lasst mich hier raus!
Anfangs fiel sie in einen Schlaf, schreckte von Glockenläuten auf, im Gleichmaß der Schläge pochte ihre Nase, pumperte bis in die Ohren. War es nur ein Wimpernschlag oder ein ganzer Tag, kaum dämmerte sie wieder ein, schon läutete es durchdringend. Irgendwann schoss ihr das Wort Wasser in den Kopf. Wegen ihrer zugeschwollenen Nase atmete sie durch den Mund. Ihre Kehle trocknete aus.
Gehorsam müsste sie sein, hatte die Hundsnonne gesagt, dann bekäme sie Wasser. Doch wie konnte sie Gehorsam zeigen, wenn sie verdurstete. Sie versuchte sich abzulenken, aber alles was sie sich vorstellte, war irgendwas Flüssiges, Nasses, Kühlendes.
Eine Wüste, sandig und dürr, durch die Jesus oder – wer war es doch gleich? – Moses, sein Volk geführt hatte, hatte der nicht das Wasser geteilt, das Meer, sodass sie unbeschadet auf der Flucht, vor wem auch immer, hindurchschreiten konnten. Ein Bach teilte eine blühende Wiese. Aus einem Berg sprudelte ein Wasserfall und der Himmel war blau wie ein See. Selbst wenn sie sich eine Steppe vorstellte, wie sie sie in einem Buch in der Bibliothek ihres Vaters gesehen hatte, war da eine Oase oder ein Tautropfen auf einem Blatt.
Sie dachte an zu Hause, tilgte ihre Mutter, lenkte ihre Sinne auf den Garten, der Springbrunnen im Labyrinth. Ihre Zunge klebte wie ein dürres Herbstblatt am Gaumen, ihre Lippen spannten. Mutter hatte angeordnet, dass sie hier eingesperrt wurde und verrecken sollte. Damals in der Truhe war es kaum auszuhalten, und in der Nische der Bibliothek, aber all das war im Vergleich hierzu ein Palast gewesen.
Sie saugte an ihrem Kleid, betäubte ihren Durst mit Blutgeschmack und Schweiß.
Der Sternenhimmel verblasste. Ein grauer Tag begann. Im Karzer zeichneten sich die Mauersteine ab. Anna ertastete Kratzer und Kerben wie Buchstaben. Wie viele hatten hier gesessen und vielleicht ihr letztes Stündlein verbracht?
Seit sie wach war, läuteten die Glocken mit dem Stand der Sonne. In der Ecke bei der Tür hob sich ein Stein vom ansonsten gleichförmig sandigen Boden ab. Von der Größe her passte er in das Luftloch der Mauer. Anna wollte ihn herausziehen, doch der Gestank ließ sie zurücksinken. In dieses Loch sollte sie also ihre Notdurft verrichten. Am Fuß der Tür zeichnete sich eine Art Klappe ab. Sie stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen, die Klappe gab nicht nach.
Ritze für Ritze fuhr sie die Steine entlang, mal klebten Spinnweben an ihren Fingern, mal löste sich etwas Mörtel, aber nirgends war ein Zettel oder sonst eine Spur von denen, die hier vorher eingesperrt gewesen waren. Anna zählte bis zur Dämmerung die Steine, sortierte sie in Gedanken nach Größe und Form, spann sich daraus ein Schloss, ein weitläufiges Gebäude mit riesigen Quadern, Wasserquellen überall, Springbrunnen und Bäche. Ein Königreich für einen Schluck Wasser.
Sie hörte ein Scharren, die Klappe bewegte sich nach außen. Ein Holznapf wurde hereingeschoben. Ehe Anna gegen die Klappe drücken konnte, um sie aufzuhalten, war sie wieder verschlossen. Obendrein hatte sie einen Teil der Suppe verschüttet. Gierig stürzte sie sich darauf, und war froh um das Dämmerlicht im Karzer, damit sie nicht genau sah, was sie da schlürfte. Ein grauer Brei mit Brocken darin, sie hoffte, dass es einfach nur Brot war. Doch das sollte sie laut Hundsnonne erst bekommen, wenn sie gehorsam war. Zu Hause hätte sie so etwas niemals angerührt. Es schmeckte angebrannt und bitter, aber Anna kam es wie ein Göttertrank vor, der ihre Glieder durchströmte. Sie leckte sogar die verschüttete Suppe mit der Zungenspitze auf, scherte sich nicht um den Dreck.
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