Im Land der Feuerblume: Roman
Geschichte herumgesprochen: wie nämlich dieser Carlos Anwandter in einem simplen Kochtopf Weizen mälzte, im Backofen dörren ließ und so sechs Flaschen Bier zustande gebracht hatte, die allerdings ganz schnell getrunken werden mussten, weil sie sich ansonsten in Bieressig verwandelt hätte. Beim zweiten Mal hatte er schon mehr gebraut – und statt des Kochtopfs einen Waschkessel benutzt. Mittlerweile, so hieß es, sei ein echter Braukessel im Einsatz.
Eben hatte Annelie Poldis Kelch nachgefüllt, und der hatte ihn so schnell leer getrunken wie den ersten. Nun stellte er ihn mit lautem Klirren ab und war mutig genug zu rufen: »Es ist so still hier! Wir brauchen doch Musik zum Tanzen!«
Annelie zuckte mit den Schultern; anderes als Essen und Trinken konnte sie nicht zur Unterhaltung beitragen, doch Andreas Glöckner, der soeben mit Eltern und Schwestern das Haus betreten hatte, zog eine Mundharmonika aus seiner Hosentasche. Ehe er zu spielen ansetzte, warf er seiner Mutter einen fragenden Blick zu.
»Aber ja doch!«, rief Barbara, und ihre Stimme kiekste, obwohl sie noch nichts getrunken hatte. »Poldi hat recht! Musik braucht’s! Laute, beschwingte Musik!«
»Wo hat Andreas denn die Mundharmonika her?«, grummelte Christine Steiner misstrauisch, als könnte etwas, das sie nicht mühselig selbst hergestellt hatten, nur gestohlen sein.
»Na, von den anderen Tirolern in der Nachbarsiedlung«, schaltete sich Jule ein. »Denen ist das Gesicht nicht eingeschlafen wie unsereins. Sie treffen sich regelmäßig, singen und tanzen, erzählen Märchen und spielen Weizenpicken. Das Lachen ist dort nicht verboten. Wenn man unsereins anblickt, könnte man hingegen meinen, gerade sei jemand gestorben.«
»Das sagst ausgerechnet du?«, kläffte Christine. »Dein Anblick ist doch der letzte, der einen fröhlich stimmt.«
»Kein Wunder«, antwortete Jule. »Weil ich eben nichts zu lachen hab, inmitten dieser ernsten Meute.«
»Wie schade!«, höhnte Christine. »Das kann nur bedeuten, dass du dich langweilst … und wo du dich langweilst, dort willst du gewiss nicht bleiben.«
»Nun hört doch auf!«, mischte sich Annelie ein und strich wie so oft über ihren gewölbten Leib. »Lauscht lieber seinem Spiel!«
Die Töne, die Andreas zauberte, gerieten schief und folgten keinem Takt, doch weil sie so fremd und ungewohnt waren, hörten die meisten ergriffen zu.
»Man könnte es besser machen«, stellte Jule fest, »aber dass dieser knöchrige Junge überhaupt spielen kann – das ist schon Wunder genug.«
Auch Elisa hatte dergleichen nicht erwartet, obwohl sie sich, als sie Andreas musterte, eingestehen musste, dass sie eigentlich noch nie irgendetwas von diesem schlaksigen Jungen erwartet hatte. Die Glöckners waren tüchtige Leute, so viel stand fest. Taddäus war zwar manchmal halsstarrig und geriet mit Fritz aneinander, aber wenn man seine Hilfe brauchte, war er zur Stelle. Und dennoch war’s, als hätte Barbara nicht nur sämtliche Schönheit, sondern auch Lebendigkeit, Humor und Wortgewandtheit für sich allein beansprucht, während für die übrige Familie nichts blieb, außer stumm in ihrem Schatten zu leben.
Andreas beendete das erste Lied.
»Gut gemacht«, rief Annelie, um leiser hinzuzufügen: »Es sei ihm vergönnt, Zuspruch zu erfahren. Barbara schert sich nicht viel um ihn.«
»Tja«, meinte Jule. »Die hätte wohl lieber Poldi als Sohn. Wobei man sich fragen muss, so rotwangig wie sie ihn anglotzt, ob er wirklich ihr Sohn sein soll oder nicht vielmehr …«
Die letzten Worte gingen in einem Grummeln unter.
»Was hast du gesagt?«, fragte Christine spitz.
»Nichts, rein gar nichts. Ich bin immer noch damit beschäftigt, mich zu langweilen.«
Wieder tönten die Klänge der Harmonika, diesmal etwas flotter und sicherer.
Poldi trank seinen nunmehr dritten Kelch Apfelwein. »So!«, rief er laut, nachdem er sich den Mund abgewischt hat. »Jetzt haben wir Musik! Jetzt können wir auch tanzen!«
Schwankend trat er auf die Glöckners zu, und Elisa hörte Jule und Annelie tuscheln, ob er wohl die Dreistigkeit besaß, Barbara aufzufordern. Doch dann steuerte er auf Resa zu, ergriff ihre Hand und zog sie mit sich. Das Mädchen wirkte verdutzt, wehrte sich jedoch nicht, so wie sie vieles wortlos hinnahm – das Arbeiten ebenso wie nun das Tanzen. Der Boden knarrte unter Poldis Schritten, als sie sich wirr im Kreise drehten, ohne jegliche Schrittfolge, nicht einmal im Takt der Musik. Er schwankte und fiel
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