Im Land der Feuerblume: Roman
acht habe ich groß gekriegt, ohne dass sie mir am Hunger oder der Lungenkrankheit starben.« Ihr Blick glitt auf Lamberts Kinder, als wollte sie sagen: »Deine ängstliche, maulfaule Frau hingegen hat nur zwei geboren.«
Die Feindseligkeit, die durch ihre Stimme klang, war viel älter als dieser Tag. Wahrscheinlich, so vermutete Elisa, stammten sie aus dem gleichen Dorf. Die meisten Aussiedlerfamilien schlossen sich zusammen, wenn sie die Reise zu einem der norddeutschen Häfen antraten. Nur sie waren allein gekommen. Niemand aus ihrem Dorf hatte sich mit den von Grabergs zusammentun wollen, die – auch wenn sie nun gleichfalls verarmt waren und selbst auf dem Felde arbeiten mussten – nicht zum einfachen Bauernvolk und darum nicht zu ihresgleichen gezählt wurden.
»Eine Tracht Prügel hätte er verdient«, ereiferte sich Lambert.
»Du sagst mir nicht, wann ich mein Kind zu schlagen habe!«, tönte Christine zurück. Sie trat auf Poldi zu, packte ihn und zog ihn an sich. Sein spitzes Gesicht ersoff fast in ihrem dicken, wogenden Busen.
Legst du dich mit ihm an, legst du dich mit mir an, schien diese Geste besagen zu wollen – und Lambert gab nach.
»Mach doch, was du willst!«, murrte er; dann stapfte er wütend davon. Hastig folgten ihm seine Frau und die beiden Kinder. Elisa war sich nicht sicher, ob das weißblonde Mädchen nicht etwa gelächelt hatte. Doch womöglich hatte nicht Schadenfreude dazu geführt, dass ihre Mundwinkel zuckten, sondern nur Erleichterung, dass die Wut des Vaters heute anderen galt und nicht ihr.
»Stell dir vor«, rief Poldi empört, der sich gerade von seiner Mutter befreite. »In ein stinkendes Loch hat er uns einsperren lassen, und wenn nicht …«
Christine hörte nicht auf ihn. Ihre Miene, eben noch feindselig, wurde streng. Sie wartete, bis Lambert in der Menge verschwunden war, dann hob sie die Hand und versetzte Poldi eine schallende Ohrfeige, die ihn taumeln ließ. »Wag’s nicht, noch einmal davonzulaufen«, setzte sie hinzu. Poldi hielt sich die Wange und heulte auf. Doch als Christine ein weiteres Mal drohend die Hand hob, verstummte er augenblicklich und reihte sich wieder bei seinen Geschwistern ein. Halb spöttisch, halb ehrfürchtig bestaunten diese ihn.
Als Christine sich an Elisa wendete, klang ihre Stimme viel weicher.
»Hab Dank, Mädchen! Weiß zwar nicht, was du getan hast. Aber hast meinen Lümmel wohl aus einer Notlage befreit.«
»Das war nicht ich!«, erklärte Elisa rasch. »Das war …«
Sie drehte sich um und suchte nach dem Mann mit den schönen, feingliedrigen Händen, dem braungewellten Haar und dem Blick, der ihr zunächst sanft und traurig erschienen war, dann aber zielstrebig und entschlossen. Seine Anwesenheit hatte sie sofort beruhigt, und zugleich war sie ein wenig nervös geworden, als seine warmen Augen forschend über ihre Gestalt gehuscht waren: Sie hoffte, dass die Anzeichen von Verarmung, die sie selbst ebenso entschlossen zu verbergen versuchte wie ihr Vater, ihm nicht allzu deutlich ins Auge gefallen waren. Doch nun konnte sie nicht mehr prüfen, welchen Eindruck sie bei ihm hinterlassen hatte. Mit Bedauern musste sie feststellen, dass er nicht mehr an ihrer Seite stand und sie kein weiteres Wort mit ihm wechseln konnte. In dem Trubel hatten er und der dickliche Pastor sich unauffällig entfernt, ohne ihren Dank abzuwarten.
Stattdessen kam ihr Vater auf sie zugelaufen, aufgeregt, ungeduldig und ein wenig überfordert wie immer.
»Elisa, da bist du ja! Ich suche dich schon seit einer halben Ewigkeit! Hast du nicht gehört, dass es nun aufs Schiff geht?«, rief er ihr zu.
»Aufs Schiff, ja«, murmelte sie, und dann überwog die Erleichterung, dass das kräftezehrende Warten endlich ein Ende hatte, sogar die Enttäuschung, den hilfreichen Fremden nicht mehr fragen zu können, ob auch er die Reise auf der Hermann III. antreten und sie sich auf dem Schiff wiedersehen würden.
Wenn Elisa sich jenen Moment vorgestellt hatte, da sie das Schiff besteigen würde, so hatte sie stets tiefe Ehrfurcht gefühlt. Ein besonders feierlicher Augenblick würde das sein, von der Wehmut des Abschiednehmens ebenso geprägt wie von Abenteuerlust und Neugierde. Sie hatte sich vorgenommen, den Moment, da sie womöglich das letzte Mal heimatlichen Boden unter sich fühlte, ganz bewusst zu begehen.
Doch nun, da es so weit war, ging alles ganz schnell vorüber. Irgendwie bahnten sie sich ihren Weg durch das Gewühle und Geschubse; dann waren
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