Im Land der Feuerblume: Roman
erinnern, nicht mehr an ein Gesicht.
»Elisa!«
Poldi winkte ihr vom Ende des Kojenganges zu – und zumindest dieses Gesicht hatte sie noch ganz genau im Kopf. Lächelnd schritt sie auf ihn zu. Poldi schien eben entdeckt zu haben, dass man in den Kojen nicht nur schlafen, sondern auch herumklettern konnte. Was ihm jedoch mit einem Satz gelang – auf das obere Bett zu springen –, war für die drei kleinen Schwestern eine Unmöglichkeit: Die älteste nahm es mit einem Lächeln hin, die zweite mit einer gerunzelten Miene; die dritte hingegen jammerte und greinte wieder einmal herzerweichend.
»Christl! Lenerl! Katherl!«, rief einer der älteren Brüder mahnend. Er hatte unverkennbare Ähnlichkeit mit Poldi, das gleiche weißblonde Haar, das wie ein Igelfell von seinem Kopf abstand, die Sommersprossen und die kecke Stupsnase, doch ihm fehlten das spitzbübische Lächeln und das Funkeln in den Augen. Ernst und streng sah er vielmehr drein, und genauso klang auch seine befehlende Stimme. Das heulende Mädchen – Elisa wusste nicht, welcher der genannten Namen zu ihm gehörte – schloss schlagartig den Mund.
Nicht allen musste Ruhe erst befohlen werden. Während die Kinder es nicht aushielten, still zu stehen, saßen ihr Vater und Großvater schweigend auf dem Bett, beide mit gekrümmtem Rücken und hängendem Kopf, und bis auf die Tatsache, dass des einen Haar weißer war als das des anderen, glichen sie einander wie Zwillingsbrüder.
Sie blickten auch dann nicht hoch, als Christines keifende Stimme ertönte, die zu Elisas Erstaunen jedoch nicht den unruhigen Kindern galt, sondern jemand ganz anderem.
»Wenn sie tatsächlich noch frei sein sollte«, Christine deutete auf eine leere Koje, »dann haben wir das größere Recht darauf. Ich habe sechs Kinder, du nur zwei. Und was machst du überhaupt hier? Ich habe vorhin ganz genau gesehen, dass euch zwei Kojen weiter vorne zugeteilt wurden.«
Aus dem Halbschatten erhob sich Lambert Mielhahn. Unwillkürlich trat Elisa zurück, doch der Mann, der ihr vorhin solche Schwierigkeiten bereitet hatte, achtete gar nicht auf sie.
»Du schreibst mir nicht vor, wo ich und die Meinen zu betten haben!«, gab er zurück.
»Und du besetzt nicht eine Koje, die ich für meine Familie brauche!«
Wie keifende Rohrspatzen klangen sie.
»Was ist denn los?«, wandte sich Elisa an Poldi, der nicht aufhören konnte zu grinsen. Mit raschen Worten erklärte er, dass man eben den Passagieren im Zwischendeck die Kojen zugeteilt hatte, eine jedoch frei geblieben war, und auf diese hatten sowohl seine Mutter als auch Lambert Anspruch erhoben.
»Such dir doch eine andere!«, kreischte Christine. »Dort vorne!«
»Wie oft soll ich es denn noch sagen? Ich nehme die Nummer zehn nicht. Die ist gleich am vorderen Mast, und jeder weiß, dass es dort am stärksten schaukelt.«
»Und warum sollte es mich kümmern, wenn du im Schlaf aus dem Bett rollst?«, fauchte Christine. »Du kannst dir nicht einfach die Koje aussuchen, die dir passt.«
»Und wer hindert mich daran? Du etwa? Warum steht eigentlich euer ganzes Gepäck hier herum? Hast du nicht gehört, dass es klare Anweisungen darüber gibt, wo es zu verstauen ist? Und zwar keinesfalls hier zwischen den Schlafstellen! Das ist sogar strengstens verboten!«
»Genau wie du auch schon sagtest: Wer hindert mich daran?«
Sie maßen sich mit giftigen Blicken. In dem von Lambert stand nicht nur Ärger, sondern auch Ungläubigkeit, dass eine Frau ihn so heftig anging. Seine eigene hatte schweigend die blassen Kinder an sich gezogen. Er drängte sie nun beiseite, um vollendete Tatsachen zu schaffen, indem er sein Bündel einfach in die freie Koje legte.
»Wir nehmen die Koje«, stellte er fest.
Elisa sah, dass Christine heftig Atem holte und zum Widerspruch ansetzte.
Doch die Worte, die dann ertönten, stammten nicht aus ihrer Kehle.
»Das glaube ich nicht.«
Die Stimme war dunkel und tief. Alle fuhren herum, selbst die bislang müden und gleichgültigen Steiner-Männer, die Christine allein für ihre Rechte hatten kämpfen lassen. Ein weiterer Passagier kam eben den düsteren Mittelgang entlang, und Elisa war nicht die Einzige, der ein überraschter Ausruf entfuhr, als sie erkannte, dass diese Person ganz allein unterwegs war.
Die dunkle, energische Stimme glich der eines Mannes. Doch es war eine Frau, die sich aus dem trüben Licht schälte. Sie trug einen ähnlichen Haarknoten wie Christine, aber während er bei jener am Hinterkopf
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