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Im Land der Feuerblume: Roman

Im Land der Feuerblume: Roman

Titel: Im Land der Feuerblume: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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weiß und geräuschlos.
    Er hatte keine Ahnung, wie lange sie sich hier schon aufhielt. Ihr Körper war so steif vor Kälte, dass er nicht einmal mehr zitterte.
    »Gütiger Gott, Greta! Was machst du hier?«
    Erst jetzt fiel ihm ein, dass sie weder bei Ricardos noch bei Lukas’ Beerdigung zugegen gewesen war, ja, dass er sie die Wochen vorher kaum gesehen hatte.
    »Greta, was ist mit dir?«
    Ihre Augen waren schreckgeweitet. Ansonsten lächelte sie, wenn sie ihn ansah, und ihr Blick leuchtete auf. Doch nun starrte sie ihn an wie einen Fremden.
    »Greta!«, rief er immer wieder ihren Namen. »Du frierst erbärmlich!«
    Sie trug über ihrem mageren Leib nur eines der dünnen Kleider, aus denen sie längst herausgewachsen war. Es reichte kaum bis zu den Knien und bedeckte die Ellbogen nicht.
    Er berührte sie vorsichtig an ihren Schultern, und da erst zuckte sie zusammen, erkannte ihn und fand ihre Stimme wieder.
    »Es ist etwas Schlimmes passiert … mit Viktor …«
    Sie brach ab und nahm ihn an der Hand; ihr Griff war zugleich kalt und zart. Er erinnerte sich daran, wie sie einst auf dem Schiff seine Hand genommen hatte, als Jule den blutenden Viktor versorgt hatte. So lange war das her, dass er den Eindruck hatte, es hätte sich in einem anderen Leben zugetragen – nur Greta war dieselbe geblieben. Vergebens suchte er frauliche Züge an ihr; immer noch erschien sie ihm wie ein Kind, gleichzeitig scheu und schutzbedürftig.
    Vorsichtig zog sie ihn mit sich, und er folgte ihr willig. Der Nebel wurde immer dichter, verschluckte die letzte Ahnung, dass sie sich inmitten bewohnten Gebiets befanden, wo Menschen lebten und atmeten, weinten und lachten. Knietief versank er im Gras, nass tropfte es von den Bäumen, dann erreichten sie schließlich den Wald.
    Nach ein paar Schritten blieb Greta abrupt stehen und deutete nach oben. »Was soll ich denn jetzt tun?«
    Zuerst erkannte Cornelius nicht, worauf sie zeigte. Doch schließlich traten aus dem milchigen Weiß der Nebelschwaden dunkle Konturen hervor: von einem Baum, einem Ast, einem festen Strick, schließlich einem Menschen, der daran hing.
    Ein Schrei brach aus Cornelius’ Kehle. »O mein Gott!«
    Greta hatte seine Hand losgelassen. Während er sich bekreuzigte, schlug sie ihre Arme vor der Brust zusammen, als könnte sie sich auf diese Weise vor dem grässlichen Anblick schützen.
    »Ich konnte ihn nicht davon abhalten … Was soll ich denn jetzt tun?«
    Sie stand so starr wie vorhin, als sie plötzlich vor ihm aufgetaucht war. Als Cornelius sie an sich zog, zitterte er selbst viel mehr als sie. Ihre Augen waren stumpf, sie weinte nicht.
    »O mein Gott!«, rief Cornelius wieder, als er vergebens versuchte, sie zu wärmen.
    Viktor Mielhahn hing wohl noch nicht lange an diesem Baum. Seine Füße baumelten im Wind, der nun aufzog und zögerlich den Nebel vertrieb; sein Gesicht war zwar ungesund blass, aber nicht von Totenflecken übersät. Über bläulichen Lippen quoll seine Zunge hervor.
    »Ich war dabei«, stammelte Greta. »Er hat sich vor meinen Augen erhängt.«

    Viktor war tot, aber Cornelius war für sie da.
    Viktor war tot, aber Cornelius kümmerte sich um sie. Nur um sie, um sie ganz allein. Es gab keinen, der störte, weder Viktor, der ihr immer den Umgang mit anderen Menschen verboten hatte, noch die Siedler, die viel öfter über die sonderlichen Mielhahn-Geschwister sprachen als mit ihnen.
    Cornelius brachte sie zurück ins Haus, suchte nach einem wärmenden Tuch, legte es fest um sie. Dann kniete er sich vor den Ofen, um Feuer zu machen.
    Wohlige Wärme breitete sich in Greta aus, noch ehe die ersten Funken sprühten.
    Viktor war tot, aber Cornelius war für sie da.
    »Ich will nicht, dass es jemand erfährt«, sagte sie leise. »Es ist eine Sünde.«
    Ihr war es gleich, was es war, aber sie ahnte, dass Cornelius so dachte.
    Er nickte. Nachdem er Feuer gemacht und sich vergewissert hatte, dass ihr warm wurde, verließ er das Haus. Greta machte sich keine Sorgen deswegen. Sie wusste, er würde wiederkommen. Sie wusste, dass er Viktors Leichnam vom Baum schneiden und hierherschleifen würde, ihm einen Sarg zimmern und ihn verschließen, und erst viel später würde er die anderen holen und von einem schrecklichen Unglück reden, das Viktor widerfahren sei. Vielleicht würde er sagen, dass er im See ertrunken wäre oder von einem Baum gefallen, aber die Wahrheit würde er verheimlichen. So wie Viktor und sie nie verraten hatten, wie ihr Vater Lambert

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