Im Land der Feuerblume: Roman
aufgegeben hatte, sahen sie erstmals – mit weißen Bäuchen und etwas kleiner und schneller – Schwertwale.
Poldi prahlte, alles über die Tiere zu wissen, vor allem, was sie äßen, nämlich Tintenfisch, Pinguine und Robben. »Am liebsten die ganz kleinen, die Kinderrobben sozusagen.«
»Das ist nicht wahr!«, schrie Christl entsetzt. Sie hatte diese Tiere, deren Schwärme sie schon in der Magellanstraße auf den Klippen gesehen hatten, zu ihren liebsten auserkoren. »Du lügst!«
Poldi grinste. »Sie zerfleischen sie mit ihren scharfen Zähnen!«, verkündete er eindringlich.
»Du lügst!«, kreischte Christl wieder.
»So ist die Natur«, schaltete sich Jule Eiderstett ein, »jeder muss selbst sehen, wie er überlebt.«
Selten richtete sie das Wort an die Kinder. Die Erwachsenen mieden sie ohnehin. Einzig mit Fritz Steiner stand sie manchmal zusammen und lauschte, wenn der über die verschiedenen Tierarten zu berichten wusste.
»Du scheinst viel von der Natur zu verstehen«, stellte sie fest, ausnahmsweise nicht schroff, sondern ehrlich bewundernd.
Auch Elisa hatte darüber schon gestaunt – und erfuhr erst jetzt, woher er dieses Wissen nahm. »Als wir noch in Württemberg lebten, bin ich am Sonntag oft nach Stuttgart ins Museum gegangen«, bekundete er knapp. »Und ich habe das eine oder andere Buch gelesen.«
Poldi verdrehte die Augen, sichtlich nicht verstehend, dass man daran Spaß finden könnte.
Doch Jule fragte ernsthaft: »Alexander von Humboldt etwa? Der hat den südamerikanischen Kontinent erforscht, aber soweit ich weiß, nicht Chile.«
»Aber Poeppig und Meyen haben es in seiner Nachfolge getan. Und Reiseberichte verfasst.«
»Und Charles Darwin ist 1834 mit Fitz Roy die patagonische Küste entlanggesegelt. Eine ›grüne Einöde‹ hat er sie genannt.«
»Ich weiß«, sagte Fritz. »Ich habe auch Darwin gelesen.«
»Wenn das Christine wüsste«, murmelte Jule, und Elisa, die aus dem Erstaunen über dieses Gespräch nicht herauskam, war nicht sicher, ob sie damit Fritz’ Interesse an diesem Wissenschaftler meinte oder die Tatsache, dass er mit der von seiner Mutter Verfemten zu reden bereit war.
Elisa selbst konnte mit den Namen der Naturwissenschaftler nichts anfangen. Viel mehr interessierten sie sämtliche Gespräche, wenn es um ihre Zukunft in dem fremden Land ging. Hatte es zunächst gegolten, die Mühsale der Reise zu überstehen, malten sie sich nun alle ihre Ankunft im Zielhafen Corral aus, die in ein, zwei Wochen zu erwarten war.
»Danach werden wir Land bekommen, viel Land!«, schrie Poldi. »Und unser Haus wird größer sein als zu Hause. Das hat Mutter versprochen.«
»Aber dieses Haus muss erst gebaut werden«, knurrte der ältere Bruder.
»In den Auswandererjournalen stand, dass Chile das schönste Land Südamerikas ist«, meinte Elisa. »Es gibt keine giftigen Tiere und keine gefährlichen Krankheiten. Und auch keinen Hagelschlag, keine Erdbeben und keine Missernten.«
»Das Klima gleicht dem Italiens«, fügte Fritz hinzu, »und der Boden soll sehr fruchtbar sein.«
Elisa entging nicht, dass sich seine Stirn unmerklich runzelte und sein Blick starr auf die bewaldete Küste gerichtet war. Mochten sie sich über den Anblick des Lands erfreuen – sonderlich einladend wirkte es wahrlich nicht, vielmehr so unberührt, als habe es noch kein Mensch jemals betreten und als müsste jeder, der es täte, erst die Feindseligkeit der Natur überwinden.
Doch rasch wandten sie sich wieder den Vorzügen Chiles zu.
»Die Steuern sind nicht hoch«, wusste ausnahmsweise auch der ansonsten so wortkarge Lukas beizusteuern. »Und es gibt keine Kriege.«
»Niemals?«, fragte Elisa erstaunt.
»Nun, früher schon«, sagte Fritz. »Vor über dreißig Jahren haben die Chilenen gegen die Spanier gekämpft. Sie haben sie besiegt, seitdem ist Chile ein unabhängiges Land, und …«
Plötzlich verstummte er und fuhr herum; alle taten es ihm gleich, erschrocken über das Geschrei, das hinter ihrem Rücken unerwartet losgebrochen war. Es war eine Frau, die da plärrte, mit jedem Atemzug verzweifelter, und sie schlug sich laut die Hände auf die Brust.
»Da hat eine Mutter offenbar nicht ordentlich auf ihr Kind achtgegeben, und es ist im Meer ersoffen«, knurrte Jule, weniger über die mangelnde Achtsamkeit erbost als über die Tatsache, dass sie in ihrer Unterhaltung gestört wurde.
Das Schreien verstummte nicht. Immer mehr der Reisenden drehten sich um – halb neugierig, halb
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