Im Land der Feuerblume: Roman
so schnell und sorglos verkündet, schienen sich in seiner Kehle zu verknoten.
»Ja?«, fragte Jule, eher ungeduldig als neugierig.
»Die Oktoberdemonstration vor der Nationalversammlung. Es war in Berlin. Ich hätte an seiner Seite stehen müssen, aber ich war der Erste, der geflohen ist, als die Soldaten kamen … als sie das Feuer eröffneten. Ich habe von der Ferne zugesehen, wie er erschossen wurde. Aber selbst dann bin ich nicht an seine Seite zurückgekehrt, sondern habe mich versteckt, bis Ruhe eingekehrt war. Erst später habe ich mich wieder zu ihm getraut. Viel zu spät.«
Er fühlte, wie Tränen hochstiegen, doch er schluckte sie hinunter. Kurz konnte er es hören – das Getrampel der Pferde, die Schreie, die Schüsse. Doch dann verstummte alles, und das Einzige, was blieb, war Jules gleichmütige, etwas verächtliche Stimme.
»Wenn dein Freund tot ist, du aber lebst, warst du offenbar der Klügere.«
»Der Klügere? Ich war feiger.«
»Ach was!«, stieß sie aus. »Zu leben braucht mehr Mut, als zu sterben. Und mit Schuld zu leben, aber sich nicht von ihr zerfressen zu lassen, sondern trotz allem seiner Wege zu gehen – das braucht am meisten Mut.«
Kurz wusste er nicht, von welcher Schuld sie sprach, aber dann fiel ihm ein, was sie vorhin erzählt hatte – dass sie ihren Mann und ihre zwei Töchter einfach zurückgelassen hatte, um ein neues Leben zu beginnen.
»Machen Sie sich nicht manchmal … Vorwürfe?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall suhle ich mich nicht in Selbstmitleid. Man ist, wer man ist. Man tut, was man tun muss. Und sollte man zum Schluss kommen, man hat es falsch gemacht, so macht man es beim nächsten Mal besser. Das ist alles.«
»Das ist alles«, echote er. Es klang so schlicht, so einfach, was sie sagte … und so ehrlich. Unwillkürlich dachte er an Elisa. Manchmal erschien sie ihm erwachsen, manchmal noch wie ein trotziges Mädchen – doch immer war sie geradeheraus, unverstellt, aufrichtig. Sie machte niemandem etwas vor, auch sich selbst nicht; sie zeigte, was sie fühlte, und sprach aus, was ihr auf den Lippen lag.
Er straffte die Schultern.
»Es ist sinnlos, zu fliehen«, sagte Jule unvermittelt.
»Was?«
»Will sagen: Wenn deine Reise nach Chile eine Flucht ist, wirst du dort nicht glücklich werden. Man kann vor allem davonlaufen – nur nicht vor sich selbst.«
»Aber die Reise ist keine Flucht«, brach es aus ihm hervor, und zum ersten Mal glaubte er, was er sagte. »Nein, es ist keine Flucht«, bekräftigte er sich, »es ist ein Neuanfang.«
Jule hatte verlangt, dass Annelie eine Weile ruhig liegen müsse, weswegen sie über Nacht im Zwischendeck blieb. Am nächsten Tag war der schrankförmige Steward dem Vater dabei behilflich, sie zurück in die Kajüte zu tragen – das hieß: Eigentlich trug der Steward sie, und Richard trabte hilflos hinterher. In der Kajüte angekommen, deckte er sie mit drei Laken zu, und obwohl Annelie murmelte, dass ihr warm genug wäre, fragte er immer wieder, ob er noch weitere Decken holen sollte. Ihr zunehmend ausdrücklicheres Nein überhörte er. Schließlich forderte Annelie ihn auf, etwas zu essen zu holen. Sie sah nicht aus, als hätte sie großen Appetit; vielleicht, so vermutete Elisa, wollte sie ihm nur das Gefühl geben, zu etwas nütze zu sein.
Elisa trat verlegen von einem Bein auf das andere, sobald sie mit Annelie allein war. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Es tut mir so leid«, stammelte sie schließlich, »ich wollte nicht …«
Annelie sah langsam auf. Ihre Wangen waren nach wie vor eingefallen und grau, aber ihr Blick ebenso fest wie ihre Stimme. Keinerlei Zittern verriet ihren Schmerz. »Du hattest recht, Elisa«, erklärte sie nüchtern. »Du hattest ja so recht. Es war die falsche Zeit, ein Kind zu bekommen. Ich wollte es nicht, noch nicht, ich hatte schreckliche Angst. Ich habe mich nur gefreut, weil dein Vater …« Sie brach ab; ihr Blick löste sich von Elisa, schweifte suchend durch den Raum. »Jule sagt, es wäre ein Sohn geworden«, murmelte sie schließlich.
»Es tut mir leid«, murmelte Elisa wieder. Sie starrte auf den Boden, und als sie ihren Blick wieder hob, hielt Annelie ihre Augen fest geschlossen, als würde sie schlafen. Als Richard kurz danach mit einem Stück Brot zurückkehrte, hielt Elisa ihn davon ab, Annelie zu wecken.
Bis zum Abend hatte sich die See völlig beruhigt. Weder Windhauch noch Wellen kräuselten das Meer; es lag vor
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