Im Land der Feuerblume: Roman
ihren Augen. Eine Woge der Übelkeit erfasste sie, rasch schloss sie die Augen und hielt sich am Bootsrand fest. Immer nur für einen kurzen Moment öffnete sie sie in der nächsten Stunde, um sich zu vergewissern, dass sie näher an das Land herankamen. Gottlob erwarteten sie keine spitzen Klippen, sondern ein weiter Sandstrand, an den sich Wiesen anschlossen, unwirtlich zwar, aber zumindest kein gefährlicher Ort, um anzulegen. Der Wind heulte laut und warf das Boot hin und her. Einmal dachte sie, die Übelkeit würde übermächtig werden und sie müsse sich übergeben. Doch sie schluckte heftig dagegen an, gewiss, dass die verätzte Kehle das nicht ertragen hätte. Poldi fuhr hoch, als das Boot schließlich gegen den sandigen Grund stieß.
»Katherl!«, war das Erste, was er schrie.
Dem Matrosen entglitten die Ruder. Sämtliche Kräfte hatte er darauf verwendet, sie an Land zu bringen, nun hatte er keine mehr, um das Boot endgültig an den Strand zu ziehen. Die meisten Passagiere warteten nicht darauf, sondern sprangen ins Wasser, das manch einem bis zur Hüfte reichte, anderen bis zum Hals, kämpften sich zum Ufer vor und ließen sich dort fallen.
Elisa war steif sitzen geblieben und blickte sich erst um, als Poldi abermals Katherls Namen rief. Das andere Rettungsboot, in dem die Familie Steiner und Juliane Eiderstett Platz gefunden hatten, hatte kurz nach ihnen den Strand erreicht.
»Wie geht es Katherl?«, rief Poldi.
Christine hielt das Kind fest an sich gepresst. »Sie atmet«, antwortete sie mit erstickter Stimme.
Sie waren nun nahe genug herangekommen, dass Elisa in das Gesicht des Kindes blicken konnte – und erschrak. Obwohl die Augen weit aufgerissen waren, rührte das Katherl sich nicht. Die Haut war aufgedunsen und bläulich, der Mund zu einem absonderlichen Lächeln verzogen. Ganz gleich, was Christine sagte – für sie sah das Mädchen aus wie tot.
Es war nicht das Einzige, was in ihr blankes Entsetzen auslöste. Sie suchte das ganze Boot nach ihm ab – doch Cornelius war nicht unter den Passagieren. Hatte man ihn in ein anderes Rettungsboot gezogen? War er gar … Nein, so weit wagte sie nicht zu denken.
»Wir … wir müssen ans Ufer …« Ganz leise drang Annelies Stimme an ihr Ohr. Erstmals fragte sie sich, wie die Stiefmutter – geschwächt von der Totgeburt – die kalte Nacht überstanden hatte. Doch als sie den Blick hob, sah sie, wie Annelie behende aus dem Boot sprang und gegen die Wellen kämpfte, die ihren Bauch umspülten.
»Komm, Richard«, forderte sie den Vater auf, doch der saß wie erstarrt und hob den Kopf nicht. Elisa kletterte zu ihm und ergriff seine Hand. »Vater …«
Immer noch keine Reaktion. Nicht lebloser hätte er wirken können als das fast ertrunkene Katherl.
Sie warf Annelie einen hilfesuchenden Blick zu. »Was hat er denn?«
Annelie zuckte nur mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Seit wir uns vom Schiff gerettet haben, hat er kein Wort gesagt.«
Ihre Zähne klapperten, ihre Lippen färbten sich bläulich. Rasch watete sie zum Ufer, um sich vor dem kalten Wasser in Sicherheit zu bringen. Einige der Männer zogen nun endlich das Boot an den Strand, damit die restlichen Passagiere leichter aussteigen konnten.
»Nun sag doch was!«, hörte Elisa Annelie auf Richard einreden.
»Nun sag doch was!«, forderten auch Christl und Magdalena von ihrer kleinen Schwester. Christine hatte mit dem Kind das Boot verlassen und sich dann auf dem Sand niedergelassen, um das Katherl sanft zu schaukeln. Immer noch waren deren Augen weit aufgerissen, immer noch kam kein Laut aus seinem Mund.
Eine andere hingegen schluchzte so verzweifelt, dass Elisa zusammenfuhr. Über Stunden hörte sie nun schon gequälte Schreie, Klagen, Jammern, Stöhnen, doch kein Laut war ihr derart durch Mark und Bein gegangen wie dieser. Es war Jule, die herzerweichend heulte. Jene forsche, harte, entschlossene Frau, die bisher nie ein Gefühl außer Überdruss und Verachtung gezeigt hatte, kniete wie ein Häuflein Elend auf dem Sand, laut klagend und die Hände über die Brust geschlagen.
Annelie ließ von Richard ab. »Lieber Himmel, was hat sie denn?«
Elisa blickte fassungslos auf die Tränen, die sich da ihre Bahn brachen. »Mein Buch!«, rief Jule Eiderstett verzweifelt. »Ich habe mein Buch verloren. Es war doch mein teuerster Besitz!«
Christine Steiner hob den Kopf. Erstmals seit Stunden schien sie zu bemerken, dass die Welt aus mehr bestand als ihr selbst und dem
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