Im Land der Feuerblume: Roman
keinem Menschen je so wohl, so geborgen, so angenommen gefühlt hatte wie bei ihm, das hatte sie gewusst. Auch, dass er starke Gefühle in ihr zeugte – Sehnsucht und Lebensfreude, Mitleid und Entsetzen, Hoffnung und Vertrauen. Doch erst jetzt ging ihr auf, dass sämtliche diese Gefühle sie so ganz und gar ausfüllten, dass ohne ihn nur ein verlorener, kümmerlicher Schatten ihres Wesens zurückblieb, nichts aber von ihrer Lebenskraft, nichts von ihrer Willensstärke.
Sie wischte die Tränen fort und rieb sich dadurch Salz und Sand in die Augen. Wie Feuer brannte es; eine Weile konnte sie gar nichts sehen, danach blieb das Bild so unscharf, als wäre es hinter einer Nebelwand verborgen. Doch der Schatten, der sich plötzlich über sie beugte – den erkannte sie. Sie wusste nicht, woran, denn sie konnte weder seine Statur noch die Züge seines Gesichts ausmachen, dennoch war sie sich augenblicklich sicher: Er war da.
»Cornelius!«
»Elisa!«
Wieder blendete die Sonne sie, als er ihr seine Hände entgegenstreckte und sie hochzog, doch greller noch als die Strahlen war das überwältigende Glücksgefühl, das sie überflutete.
»Gott sei Dank, dass du hier bist!« Er klang voller Sorgen, hatte sie wohl eine Weile vergebens gesucht – so wie sie ihn.
»Ich hatte solche Angst um dich«, stammelte sie.
»Ich habe nicht gesehen, ob du es in eines der Boote geschafft hast.«
»Dein Onkel, was ist mit deinem Onkel?«
»Es geht ihm gut. Aber so viele andere …« Er brach ab.
Sie nickte traurig. »Emma Mielhahn ist tot. Und der Großvater der Steiner-Kinder auch.«
»Ich weiß«, sagte er, »aber Katherl … geht es wenigstens dem Katherl gut?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher. Sie atmet zwar wieder, aber ihr Blick ist so leer. Ich habe gesehen, wie du nach ihr getaucht bist. Ich … ich habe den Gedanken kaum ertragen, du würdest nicht wieder auftauchen. Ich bin so froh, dass du …«
Sie verstummte, konnte die Erleichterung nicht in Worte fassen. Es reichte nicht aus, es nur zu sagen. Das Zittern in ihren Knien verstärkte sich, dann sank sie ihm förmlich entgegen.
Er strich ihr über die zerzausten Haare, und sie streichelte seine Wangen; rauh fühlten sie sich an, eine blutige Strieme ging ihm quer über die Stirn. Wie vorhin wurde es schwarz um sie, diesmal nicht vor Schwäche, sondern weil sie die Augen schloss, als sie seine Lippen suchte, sie schließlich fand. So rauh und ausgedörrt war ihr Mund, dass sie eine Weile nichts von ihm schmeckte und nichts spürte. Doch dann umschlossen ihre Hände seinen Nacken, zogen ihn noch dichter an sich heran. Alles fiel von ihr ab, die Übelkeit, die Schmerzen, die Furcht. Sie hörte das Meer nicht mehr rauschen und die Menschen nicht mehr um ihren verlorenen Besitz weinen. Ihre ganze Welt bestand nur noch aus ihm, Cornelius, und jene Welt war vertraut, voller Liebe und Glück. Zaghaft war der Druck seiner Lippen; erst nach einer Weile wurde er fordernder. Sie öffnete ihren Mund, schmeckte ihn stärker; ein Kitzeln ging durch ihren Körper, als ihre Zungen sich trafen. Ihr Körper fühlte sich nicht länger steif an, ihr Hals nicht mehr verätzt, ihre Haut nicht mehr rissig und klebrig.
Sie presste sich fest an ihn, wollte jede Faser ihres Körpers von seiner Nähe kosten lassen und von dem wohligen, hoffnungsvollen Gefühl, dass alles, was eben noch verloren und zerstört schien, wieder heil und ganz werden konnte, wenn sie denn nur bei ihm war.
10. KAPITEL
A ls sich der Nebel lichtete, sahen sie hinter dem sandigen, sumpfigen Boden erstmals grüne Hügel. Bald aber zogen Wolken auf, die Sonne verschwand, und gegen Mittag regnete es so heftig, dass ein jeder zusammengekrümmt dasaß und sich mit all dem, was er auf dem Leibe trug, notdürftig zu schützen versuchte. Wurden sie auch blind für das Land, so hatte sich ihr Unglück dennoch dort herumgesprochen. Als die tiefen Pfützen im Sand nur mehr von einzelnen Tropfen gekräuselt wurden, kamen Männer in dunklen, wenngleich zerfledderten Uniformen auf sie zugeritten, Soldaten offenbar, die mit dunkler, fremder Stimme auf sie einredeten. Es waren die ersten Chilenen spanischer Abkunft, die Elisa zu Gesicht bekam.
»Was … was sagen sie?«, fragte sie Cornelius, der ein paar Brocken Spanisch gelernt hatte.
Nach dem Kuss hatten sie sich losgelassen, doch sie waren dicht nebeneinander sitzen geblieben, als der Regen kam. Zu Elisas Erstaunen hatte Pastor Zacharias, der
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