Im Land der Freien
Singen, Jauchzen und Frohlocken, wieder die vollen Akkorde, wieder diese herzwärmende schwarze Gospelmusik. Bis Swaggart, schweißüberströmt und nun endgültig bereit für theatralische Höchstleistungen, zum Mikrofon greift und die Predigt liefert, heute über Kapitel 16 des Johannes-Evangeliums: »… Wenn aber der Tröster kommen wird … der Geist der Wahrheit … der wird zeugen von mir.«
Swaggart weiß seit Urzeiten, dass unkommentierte Bibelsprüche auf den Tod langweilen. Dass sie erst Leben bekommen, wenn man sie übersetzt, mit Worten aus dem jetzigen Alltag deutet. Und Jimmy – wie alle Poeten um das Geheimnis der Metapher wissend – beherrscht diese Kunst, die Kunst der Anekdote und der Allegorie, aus dem Effeff.
Hier die wunderlichste, die wunderbar klarste, die wunderbar schwachsinnigste des heutigen Vormittags. Sie fängt an mit: »Heute morgen begegnete ich Jesus auf der Interstate 10.« Und das kam so: Kurz zuvor war ihm, Jimmy, dem Mercedesfahrer, auf dem Weg zum Family Worship Center ein anderer Wagen mit hoher Geschwindigkeit auf seiner Seite entgegengekommen. Und da keine Zeit mehr war zu beten – er gibt zu, selbst zu schnell unterwegs gewesen zu sein –, wäre Jesus, ungebeten, eingesprungen: Im letzten, aber wirklich letzten Augenblick habe der Geisterfahrer das Steuer herumgerissen. Die Moral? Jesus ist der allgegenwärtige Tröster, der immer aushilft, auch dem Sünder, auch Jimmy Swaggart, dem Raser.
Und warum verhinderte Jesus eine Katastrophe? Ach, so einfach: »Weil der Herr schon vor zehntausend Jahren wusste, dass er hier und heute in Baton Rouge, an diesem Sonntag, auf der Interstate 10 um 9.37 Uhr eingreifen muss. Und er griff ein.«
Noch vier weitere Geschichten erzählt uns Jimmy. Schöne, besinnliche, alle vom Herrgott, der schon seit langem alles weiß. Erzählt, bis irgendwann die hellen Eimer herumgehen, in die hinein die Gläubigen ihren Zehnten und ihre Gaben, sprich: Bares, Mastercard-Voucher und Schecks, deponieren. Und bis uns Jimmy Swaggart, beinahe so berühmt und verrufen wie sein genialer Cousin Jerry Lee Lewis, noch zuruft, dass nur die Gläubigen der Pentecoastal Church , seiner Kirche, den Garten Eden betreten würden. Denn sie, so forderte es Johannes der Täufer, sind mit Wasser getauft worden. Die Wasserlosen aber, ja, die hätten nichts zu lachen. 12.17 Uhr, die letzten Weinkrämpfe himmlischer Ekstase verebben, letztes Stammeln und Greinen. Ende.
Fast. Als Swaggart durch eine Seitentür verschwindet, eile ich nach vorne und bitte einen der uniformierten Platzanweiser, mich ihm vorzustellen. Schon vor Beginn hatte ich im Bookstore seine Autobiographie » To Cross the River « erstanden. Das klappt, Swaggart zeigt sich jovial. Als er mit routinierter Freundlichkeit eine Widmung » To Andreas in Christ « hineinschreibt, merke ich, dass er sich nicht an mich erinnert. Vor Jahren war ich bereits hier und fragte, ob ich ihn mit einem erdrückenden Problem belasten dürfe. »Natürlich«, hatte Jimmy geantwortet. Und mühselig presste ich heraus: »Mister Swaggart, sorry, aber ich muss dauernd an nackte Frauen denken. Können Sie mir helfen?« Und Jimmy versuchte es, legte mir die rechte Hand auf den Kopf, legte die andere um meine Schultern und flüsterte unschlagbar ölig: »Lass uns beten. Auf dass der Heilige Geist diese Gedanken in die Hölle fahren lässt und auf dass er Wache hält, damit diese höllischen Gedanken nie mehr zurückkehren.«
Zwölfhundertvierzehn Tage später gilt dieser Rettungsversuch als gescheitert. Ich beichte alles: Nicht ein Gedanke voller Fleischeslust fuhr in die Hölle. Deshalb stünde ich heute wieder vor ihm. Ob er mir noch einmal Beistand leisten könne? Und wieder ist Jimmy bereit, mich zu retten. Nicht ohne vorher zu fragen, ob ich mich Jesus auch vollständig übergeben hätte. So legt er seine großen, warmen Hände auf mein nickendes Haupt und ruft gleichzeitig nach David, dem Chef-Platzanweiser, um den Ruf nach Hilfe zu verstärken. Offensichtlich bin ich ein Fall für zwei.
Und Jimmy balsamt wie kein zweiter. Mitten auf dem Gang, zwischen Büro und Toilette, fleht er einmal mehr nach Jesus, um mir heute endgültig die virtuelle Vielweiberei auszutreiben. »Damit nicht Satan das Regiment über Andreas übernimmt.« Und David hält meinen rechten Arm fest, übernimmt fehlerlos die Zweitstimme und wispert rhythmisch und abwechselnd » Hallelujah « und » Jesus, be good to Andreas «. Ich schließe ergriffen
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