Im Land der Freien
Niedergestreckt von einem jugendlichen Killer. Wegen eines Medaillons aus Gold, das ein Foto seiner Frau einfasste. Welche Ironie: Das Andenken, sagte Ngor einmal, trug ihn über die Abgründe in die Freiheit. Um nun genau dafür zu sterben.
Seit wir wieder von Pol Pot reden, schaut Sambath zum Fenster hinaus, nicht ein Mal blickt er mich an. Seine Stimme wird noch abwesender, mit der einen Hand hält er die andere fest. Sein feingeschnittenes Gesicht wird zum Pokerface, es soll ihm wohl helfen, seine Erinnerungen zu verstecken. Schon möglich, dass ich mich täusche, aber mir scheint, dass er den Horizont unbewusst nach Feindbewegungen absucht. Im Lager gab es keine Sicherheit. Dass die Roten Khmer die Grenze überrennen würden, war unwahrscheinlich. Aber Artilleriefeuer kam viele Tage und viele Nächte. Er hat, sagt er, als Kind mehr Leichen als Lebende gesehen.
Sambath kennt auch das Interview mit Pol Pot, das der amerikanische Journalist Nate Thayer veröffentlichte. »Ich habe ein reines Gewissen«, so resümierte der Schlächter seine Hinterlassenschaft. » Any comment? « frage ich Sambath, einen, der davonkam, einen, der heute nicht als Totenschädel in einer Gedenkstätte in seinem Land herumliegt. » No comment .« Noch immer blickt er hinaus nach Texas.
Um halb zwei Uhr nachmittags erreichen wir Houston, unsere Wege trennen sich. Ich sehe ihn durch das Terminal auf den Ausgang zulaufen, kaum ist er draußen, steckt er sich eine Zigarette an, inhaliert tief und hastig. Meine Einladung zum Kaffee lehnt er ab: » Sorry, very sorry, I must smoke .«
So sitze ich allein. Mein Tischnachbar in der Snackbar hat seinen tragbaren Fernseher aufgestellt. Man sieht einen Bericht von der größten Touristenattraktion der Welt, dem Mickey-Mouse-Imperium in Orlando, Florida. Erwähnenswert vielleicht die Einstellung auf einen Pianisten, der in einer der Imbissstuben aufspielt. Er kann alles auswendig, denn da, wo normalerweise die Notenblätter stehen, hängt ein Spiegel. So könnte sie aussehen, die Hölle: in Disney World Klavier spielen und dabei in einen rosa Spiegel schauen müssen. Minuten zuvor hörte ich die Geschichte des Kambodschaners Sambath. Er gelangte durch einen anderen Eingang in den Orkus. Für den dicken Pianisten und den dünnen Flüchtling passt ein Wort von Sartre, der glatt behauptet, dass Himmel und Hölle sich nicht oben und nicht unten befinden, sondern immer auf Erden, immer mitten unter uns.
Houston sieht aus wie Dallas. Oder sieht Dallas so aus wie Houston? Wer könnte das schon mit Bestimmtheit sagen? Als der Bus nach kurzem Aufenthalt Richtung Westen die Innenstadt durchquert und mein Blick wieder kaputtgeht beim Hinschauen auf den 5436 Quadratmeilen riesigen Verhau von Cowboy-Architektur und Ölmillionärsprotz, denke ich noch immer an Sambath. Hat jemand ein Leben wie er hinter sich, dann relativieren sich selbst die Geschmacksnerven. Dann strahlen sogar Houston-Fassaden wie die von Texas Assurance und der Eingang zum American Funeral Service Museum noch Zeichen von Menschenfreundlichkeit aus.
Für kurze Zeit sitzt ein hübscher Mensch aus Indien neben mir. Ruby studiert in Phoenix Wirtschaft. Nach dem Studium will sie zurück nach Kalkutta, um dort mit anzupacken. Der coole Optimismus der Fünfundzwanzigjährigen, den dreihundert Jahre alten Schutt in der bengalischen Hauptstadt wegzuräumen, hat etwas Herzerwärmendes. Bevor sie aussteigt, bitte ich sie, mir meine pulsera – einen gewebten Glücksbringer, den man um seinen Puls trägt – festzubinden. Er sei lose und ihn allein zuschnüren schier unmöglich. Und sie fragt, wie nur eine Frau fragen kann, die in einem Land aufgewachsen ist, das wie keines je der Magie und der Phantasie verfallen ist: » Shall I make a flower? « Aber ja doch, mach keinen Knoten, binde mir eine Blume.
Kurz nach zehn Uhr abends bin ich in Laredo, direkt an der Grenze. Bisweilen löst das Ankommen in einer fremden Stadt ein berauschendes Gefühl aus. Das Gefühl, dass alles möglich ist. O. K., nicht alles, aber viel. Am innigsten dann, wenn der Kleinmut weggeht und Vertrauen strömt. Wenn nichts bleibt als die Erkenntnis, dass nichts misslingen wird. Das so Widersprüchliche daran: Die Beklemmung vorher muss sein. Sie zu überwinden ist der Preis für das Gefühl der Euphorie.
Ich überquere den Puente International nach Nuevo Laredo, der ersten Stadt jenseits des Rio Grande. Schon auf der Brücke beginnt die »Dritte Welt«. Zehnjährige
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