Im Land der Freien
von Camus’ »Der Fremde« – kaum ein. Nichts scheint ihm selbstverständlich, er ist auf seltsame Weise dankbar. Er staunt oft, er besteht auf Überraschungen, er verfügt über das phantastische Privileg, sich nicht ununterbrochen rechtfertigen zu müssen.
So könnte es sein: Am schönsten ist Reisen. Und am zweitschönsten: der Griff zum Pass. Dieses Dokument als Metapher für Freiheit, für das Wissen, wieder fortgehen zu können. Reisen und weiterreisen, das wollte ich von Anfang an. So muss ein ewig Fremder leicht sein, sollte nicht viel Unbewegliches besitzen. Ein Traum, Geld für das auszugeben, was nicht verpflichtet, was nicht aufbewahrt, abgestaubt, versichert, untergestellt, weggeräumt und nachbehandelt werden muss. Wie ein Flugticket, wie Zeitungen, Hotelzimmer, Dinner mit Freunden, Taxifahrten, den zuverlässigen Service einer Wäscherei, sprich: Geld hinlegen für das eminent beruhigende Gefühl, keine Waschmaschine kaufen zu müssen, eben nichts haben zu wollen, was plump dasteht und ordinäre Haushaltsgeräusche produziert.
An meinem dritten Abend in New Orleans begegne ich wieder der Polizei. Und diesmal bin ich es, der sie aufsucht. Eine herausfordernde Stadt. Als ich um ein Uhr nachts zu meiner Pension zurückkehre, bemerke ich vor meiner Tür, die direkt auf die Straße hinausgeht, dass ich meinen Schlüssel vergessen habe. Rufe vor dem Haupteingang bleiben unbeantwortet. Ich wohne in einer Billigunterkunft, das Bezahlen eines Portiers nach Mitternacht wäre zu teuer. Als ich am Fenster des Nebenzimmers klopfe – der Nachbar und ich teilen die Dusche –, beginnt ein Intensivkurs in Sachen amerikanische Gesellschaft: » What the fuck you want? «, schallt es mir entgegen. Nicht unfreundlich, eher ängstlich. Denn um diese Uhrzeit melden sich nur Nutten oder Killer. Da er eine männliche Stimme vernimmt, muss ich der Killer sein.
Ich versuche ihn zu überzeugen, dass ich heute Abend keine Leiche brauche, sondern ein Bett. Ob er so liebenswürdig wäre, durchs Bad in mein Zimmer zu gehen, um mir von innen zu öffnen. Ich nenne meinen Namen, er stünde – leicht nachprüfbar – auf meinem Rucksack.
Meine Strategie erweist sich als eindeutig falsch, wahrscheinlich hält mich der Mensch jetzt für einen Wahnsinnigen, einen wahnsinnigen Killer: » Are you gone nuts? «, ist die korrekte Antwort, denn nur Verrückte können glauben, dass ein Wildfremder einem anderen Wildfremden in diesem Land zu nachtschlafender Zeit die Tür öffnet.
So kommen wir nicht vom Fleck. Ich eile zurück ins Zentrum und suche eine Polizeistation. Auch hier legt man Wert auf Sicherheitsabstand. Nur durch eine Sprechanlage darf ich mein Anliegen vortragen. Das klappt. Nachdem Officer Ted T. den Fahrersitz bis zum Anschlag zurückgeschoben und die Rückenlehne quasi flachgestellt hat, um vollständig hinters Lenkrad rollen zu können, fahren wir zu meiner Unterkunft. Der Dicke ist fix: Er bellt zweimal durch die Tür meines Nachbarn, informiert ihn darüber, dass die Polizei da ist, und wirft die Sirene an. Fünf Minuten später liege ich in meinem Bett. Nicht ohne mich bei demjenigen entschuldigt zu haben, der mich für seinen Mörder hielt.
Unbeschwert schlafe ich ein. Kleine Absteigen waren schon immer gut für eine Überraschung. Einmal fragte ich den Rezeptionschef des irrwitzig teuersten Hotels, in dem ich je abstieg – 564 Dollar für 24 Stunden, bezahlt vom Arbeitgeber –, was seine wichtigste Aufgabe sei. Und der feine Herr antwortete schlicht: » To keep you away from trouble .« So besaß ich drei Tage lang fünf Waschbecken, 29 Lichtquellen und drei Kloschüsseln. Und sonst nichts. Nicht eine einzige Aufregung, die ich auf den zweihundert zur Verfügung stehenden Briefpapierbogen jemandem hätte mitteilen können. Anders eben in 40-Dollar-Buden.
BATON ROUGE
Als ich am nächsten Morgen aufwache, weiß ich seit langem, dass es ein Jubiläum zu feiern gibt. Heute vor genau zehn Jahren wurde der Welt berühmtester, gebeuteltster und leidenschaftlichster Fernseh-Evangelist, Plattenmillionär und christliche Prediger Jimmy Swaggart beim Penetrieren einer Hure erwischt.
Der heute Zweiundsechzigjährige vertritt wie nicht viele andere den Prototyp des Südstaatlers: sein Charme, seine Energie, seine Großzügigkeit, die obszöne Heuchelei, der fürchterliche Kampf zwischen seinem Kopf, der Gott wohlgefallen will, und seinem Leib, der gefährdet von satanischer Lust schier unaufhaltsam auf die Pforten der
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