Im Land der Freien
die Augen und drücke das signierte Buch an mein Herz. Fast fünf Minuten lang darf ich diese fehlerlos inszenierte Hanswurstiade genießen, dann liegen vier Hände auf meinem sündigen Kopf und ich bin entlassen. Nicht ohne versprechen zu müssen, mich auf immer Jesus zu übergeben. Und nicht nachzugeben im Kampf gegen den Teufel in meinem Hirn.
Wieder draußen im sonnenheißen Baton Rouge, bin ich, nach einem herzlichen Abschied, um zwei, drei Erfahrungen reicher: dass Jimmy Swaggart ein feiner Kerl ist, sicherlich ein Trottel; aber kein Verächter, kein Hasser, kein zynischer Abräumer. Er glaubt den grausamen Blödsinn tatsächlich. Und dass der Herr – nehmen wir mal an, es gibt einen Herrn – ihn auserkoren hat, diesen Nonsens zu verbreiten, glaubt er auch. Sein vehementer Drang, anderen gutzutun, ihnen den rechten Weg zu weisen, ist unbestritten. Selbst wenn er sich von einem Holzweg auf den anderen verirrt. Was bei ihm am stärksten auffällt, ist diese abseitige Sucht nach Reinheit, nach Gottgefälligkeit und ähnlichen Narreteien einer so maßlosen und unmenschlichen Religion. So packen mich nicht die leisesten Skrupel, wenn ich meine offizielle Identität verleugne und einen beschämten Sünder vorspiele. Das ist ein Spiel, das ich in den verschiedensten Rollen gern spiele. Selten bin ich als offizieller Reporter unterwegs. Denn ich bin überzeugt, dass die Wahrheit Angst hat und sich versteckt. Weil sie genau weiß, was sie anrichten kann, käme sie heraus. Man muss lügen, um sie aufzustöbern.
NUEVO LAREDO
Einen ganzen Tag Busfahren steht bevor, die Aussicht macht froh. Ich will schauen, lesen, zuhören. Am Rand von Baton Rouge geht es über den Mississippi, einst märchenstill versunken, heute plärrend laut und gesäumt von auf antik-alt getrimmten Dampfern, untauglich als Fortbewegungsmittel, nur noch tauglich für dümpelnde Casinos. Auf dass kein Flecken Erde übrigbleibt, wo King Cash nicht willkommen wäre.
Nach dem Mississippi fällt mir nichts ein zur hübschen Landschaft. Geländebeschreibungen ermüden. Was soll das? Was soll der Hinweis, dass die Hügel grün sind und die Brücken aus Eisen? So erhellend wie die Nachricht, dass der Fahrer zwei Ohren hat. Als wir nach Texas kommen, beflügelt den von Raumnot und Enge gestutzten Europäer die texanische Tiefenschärfe. Ein Land wie ein auf die Erde genageltes Brett. Und an allen vier Seiten der Anfang eines texasblauen Himmels. Seltsamerweise bekomme ich hier in einer Raststätte eine Tasse Kaffee, die in etwa den Maßen der Alten Welt entspricht: also drei ounces , knapp hundert Gramm, und nicht halbe Liter.
Dafür entspricht die Lektüre des Houston Chronicle wieder ganz der Größenordnung im Wilden Westen. Ich schäme mich, aber während der nächsten fünf Minuten muss ich mindestens fünfmal lachen. Amerikanische Zeitungen berichten eben über Zahlen und Tatsachen, die Nicht-Amis überfordern.
Wie anders reagieren, wenn man eine Überschrift wie » Six killed in Cut and Shoot « liest? In »Stechen und Schießen«, so heißt das Kaff tatsächlich, wurden sechs Personen umgelegt. Das ist todernst und wahnsinnig komisch.
Die Titelgeschichte » Tracing the Terror « ist noch todernster und noch witziger. In dem sauber dokumentierten Bericht geht es um die rasante Blutspur, die der freie Waffenhandel seit Jahrzehnten kreuz und quer durch die USA zieht. In den allermeisten Bundesstaaten genügt das Vorzeigen eines Personalausweises und das Ausfüllen eines Formulars, in dem der Käufer bestätigt, dass er nicht vorbestraft ist. Dann darf er seine Flinten und Munitionskisten einpacken und nach Hause fahren. Die Opfer wussten es. Und die Lebenden wissen es noch immer: dass die Mehrzahl der Mordinstrumente legal gekauft wurde. Und dass sie früher oder später – eher früher – in falsche Hände geraten. Die siebzehnjährige Mörderin Evan Jean Lopess wird zitiert: » A gun is as easy to get as a pack of cigarettes .« Wie recht sie hat. Nachwort: Vor Tagen stand ich an der Kasse eines Supermarkts. Ein Schild wies darauf hin, dass Zigaretten nicht an Personen unter 27 Jahren verkauft werden. Im nahen Gun Shop , so erfuhr ich, darf sich einer bereits mit 21 eine 12 ga Pump Remington, acht Schuss, einpacken lassen. Erst hinterher begriff ich, dass die örtliche Gesetzgebung auf urkomische Weise in sich logisch ist. Denn noch immer – selbst in den Staaten – ist die Gefahr, an Lungenkrebs zu sterben, häufiger als die Aussicht, durch
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