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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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oberster Götter, Rosenkränze, ein See brennender Kerzen, ein Foto von Che Guevara neben dem blutenden Herz Jesu, sanfte Christbaum-Lämpchen dazwischen, Gläser mit Weihwasser und Parfums gefüllt, der Rauch der Räucherstäbchen, schwarze Puppen, glitzernde Münzen, Geldscheine, Nüsse, Reis, Ginger Lilies , Kruzifixe, der Duft von Kaffeebohnen, eine Bacardi-Flasche. Und in der Mitte des Raumes ein voll ausgebreitetes Leintuch, auf dem verschiedene Früchte liegen und eine Schale mit einer blauen Flüssigkeit steht. Sie soll das Meer darstellen, die Weite, den endlosen Raum, den Aufruf zur Toleranz.
    Marian bittet mich, mein Hemd auszuziehen und auf dem weißen Tuch Platz zu nehmen. Was immer jetzt geschehe, ich solle ihr vertrauen, sie werde die wohlgesinnten Himmelskräfte anrufen. Wäre ich guten Willens, ich könnte unbeschadet von diesem Abend profitieren. Und wäre der einzige Profit ein bescheidener Zuwachs an Liebesfähigkeit.
    Wir sind insgesamt fünf, außer uns beiden noch drei ihrer Mitarbeiter, zwei Männer, eine Frau, alle junge Musiker und Initiierte. Um mich zu entspannen, reicht mir Marian eine Tasse Uva Ursi , in die nächsten Tassen mischt sie etwas wildrose . Rotwein soll die Wirkung noch verstärken.
    Dann legen die vier los. Aber wie. Nissim schlägt die Conga, Luis die Djembe, Nikki wirbelt die Glocken und Marian lüftet eine Decke, unter der zwei Riesenschlangen zum Vorschein kommen. Einen Python – Jambalaya, den männlichen – legt sie um meinen Hals, mit dem anderen – Erzule, dem weiblichen – tanzt sie. Während ich mir einbilde, das Zischen von Jambalaya an meinen Ohren zu vernehmen, und – trotz Uva Ursi und leichtem Dusel – nur darauf warte, dass er sich anschickt, mir den Brustkorb zu stauchen, lassen Nissim und Luis ihre Instrumente fallen und greifen nach Schwert und Machete, die gekreuzt vor mir liegen, und hauen drauflos, durchhauen Zentimeter neben dem Schlangenkopf und meinem Schädel die Luft, wirbeln um uns beide und versuchen nichts anderes, als die bösen Geister zu vertreiben. Angefeuert werden sie dabei von der glockenschlagenden, im Kreis rotierenden Nikki und der schlangenumarmenden, in den Himmel hinaufschreienden, mit Sprüngen von einem Ende des Zimmers ins andere jagenden Marian. Alle zusammen mobilisieren eine schweißtreibende Energie, die mir helfen soll loszulassen.
    Aber ich lasse nicht los, die Angst vor Schwertern und Schlangen sitzt hartnäckig tief. Andererseits weiß ich um die Macht einer solch ekstatischen Umgebung, weiß aus Erfahrung, dass ich nicht unbegabt bin für Zustände, wo das Hirn wegfliegt und nichts dableibt als der euphorisierte Körper. Bis nach Mitternacht halten die Sprudelfrau und ihre Freunde durch. Bis der Tempel kocht, bis ich – dampfglänzend – in Trance falle, zu heulen beginne, noch mitbekomme, wie die vier nach meinem Leib greifen und ihn festhalten. Weil er jetzt rasant zu zucken anfängt und wohl durchaus die Gefahr besteht, dass er kopflos und unbeherrscht gegen irgendeinen nächsten Gegenstand schlägt. Dieser Augenblick – so glauben die Voodoo-Fans – ist die Stunde, in der die bösen Geister, wie die Missgunst und die Tücke, aus einem herausfahren.
    Was weiß ich? Nur so viel: dass ich um drei Uhr morgens federleicht ein Taxi besteige. Und dass kein Teufel mich hindert, unbeschwert wie eine Ratte einzuschlafen. Aber ja, die Niederträchtigkeiten und schlechten Launen werden zurückkommen. Aber sie alle auf einmal loswerden – und wäre es nur für eine halbe Nacht – ist eine sensationelle Freude.
    Vor Jahren verriet mir ein Freund, der die Hälfte seines Lebens im Ausland gelebt hatte: »Ich bin gern Fremder.« Kluge Bemerkung, denn Fremdsein – und wer ist fremder als ein Reisender? – macht das Leben verwundbarer, sprich intensiver. Jeder Augenblick destabilisiert, immer muss man sich neu arrangieren, für den täglichen Grind der Routine bleibt weniger Zeit. Die Gefahr, zweimal denselben Fehler zu machen, ist geringer. Die Chancen steigen, immer neue Irrtümer begehen zu dürfen. Das Herz verhornt langsamer, die Augen erblinden später, das Leben, das Wachsein dauern länger. Der Verstand, nicht täglich eingelullt von den ewig gleichen Bewegungen des Körpers, weigert sich trotzig, als Kleinhirn zu enden. Die fürchterliche Aussicht, als Massenartikel im Mainstream, als mutlose Null seine Zeit absitzen zu müssen, diese Aussicht holt den outsider – so lautet auch die englische Titelübersetzung

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