Im Land der Freien
folgendermaßen lautet: »Wenn es regnet, dann schüttet es.« Herr, erbarme dich unser.
Regen, das muss das Stichwort sein! Mein Hirn beamt nach Dublin, es ist der 16. Juni 1904, und ich sehe Leopold Bloom durch die Straßen seiner Stadt irren, deprimiert von dem Wissen, dass das Innere seines Schädels einer Kloake ähnelt, randvoll geschissen mit dem Nachrichtenschrott der Welt. Knapp hundert Jahre sind inzwischen vergangen und der Schrott ist nicht weniger geworden. Im Gegenteil. Was würde passieren, zwänge man drei Schimpansen zum Anhören von Debbies Sendung? Würden sie impotent, würden sie irre, verübten sie kollektiven Selbstmord? Hirntot und windelnass besteige ich meinen Bus nach New Mexico.
SANTA FE
Das werden anstrengende zweiundzwanzig Stunden. Müde von der orkanlauten Nacht, träume ich von den fürsorglichen alten Zeiten, als die Greyhound Inc. noch Schlafwagenbusse einsetzte. Es gab sogar einen eigens dafür abgestellten Menschen, der sich mit Getränken und Snacks um die Schläfer kümmerte. Dass Männer und Frauen offiziell getrennt zu Bett gingen, sollte nicht stören. Ein Abteil, ganz hinten, trug nach kürzester Zeit den schmucken Beinamen » The Love Nest «. Gegen einen Obulus an das diensthabende Personal konnte man dort ungestört seinen unaufschiebbaren Bedürfnissen nachgehen.
Berühmt wurden die sleepers in den späten dreißiger Jahren, als bekannte Big Bands – Jimmy Dorsey’s, Phil Harris’ und Benny Goodman’s – die Doppeldecker wochenlang in Anspruch nahmen, um von einem Konzert zum anderen zu rauschen.
Meine Wirklichkeit sieht wieder eine Spur anders aus. Ich rieche kein Liebesnest, nur den Gestank einer unbetretbaren Toilette. Wilder Regen schlägt gegen die Scheiben. Statt Goodmans » Blue Skies « höre ich die Gruppe Black Sabbath aus dem Walkman eines Nachbarn, die Kannibalenmusik gitarrendreschender Monomanen: akustische Daumenschrauben, die imstande sind, meine sechs sinnlichsten Körperteile, die Gehörknöchelchen, zu zerlegen. Um Viertel vor zehn springen Schäferhunde an Bord, mitten auf dem Highway steht eine Kontrollstation, um illegale Mexikaner aufzuhalten und zurückzuschicken. Da ich auch irgendwie illegal aussehe, muss ich mein Gepäck herzeigen. Das geht gut, mein mexikanisches Sandwich und ich dürfen passieren. Als wir an einem großen Schild mit der Aufschrift » Wurstfest « vorbeikommen, packe ich meinen Reiseproviant aus. Wie so viele Missmutige hoffe ich, dass eine Kalorienzufuhr mich aufhellt und heilt.
Keine Chance. Nichts gelingt mir heute, um seelenfressenden Meldungen rechtzeitig auszuweichen. Aus dem Radio kommt die Nachricht, dass Bauunternehmer auf einem indianischen Friedhof in Nebraska ein Casino errichten wollen. Die böse Überraschung: Die Bauunternehmer sind Indianer.
Souverän greife ich an der nächsten Tankstelle nach USA Today und finde im Inneren der Zeitung acht von IBM bezahlte Werbeseiten zum Thema » e-business «, »e« wie »elektronisch«. Ein ganzseitiges Foto zeigt vier feingekleidete Geschäftsmänner, die impertinentesten Herrenmenschen des ausgehenden Jahrtausends. Wie bezeichnend: Von keinem sieht man das Gesicht. Nur ihre vier viereckigen Köfferchen und ihren entschlossenen Schritt. In den schwarzen Aktenkoffern darf man einen elektronisch betriebenen Taschenrechner zum Ausrechnen der Welt, ein Telefon zum Verkaufen der Welt und das Wallstreet Journal zum Nachschlagen des gestrigen Preises der Welt vermuten. Überschrift: » Sell things «, der Lieblingssatz der Cyberbirnen.
Vor Jahren sah ich inmitten der olympischen Stadien von Los Angeles das dazugehörige Standbild: Mann und Frau nebeneinander, ohne Kopf. So haben Hochleistungssportler und Höchstverdiener so manches Mal das Wichtigste gemeinsam: Den Kopf, das Hirn, kann man weglassen. Somit sind sie vor einem Gehirnschlag sicher. Er wäre ein Schlag ins Leere.
Wieder eine lange Fahrt durch Texas. Das leise Summen des Motors fängt an, meine aufgepeitschten Nerven wie ein Wiegenlied zu beruhigen. Gleichzeitig breitet sich in mir die erhebende Einsicht aus, dass die Erde nicht aufhört. Dass sie tatsächlich keine Scheibe ist, dass nie die Angst kommt, am Ende von der Kante zu fallen.
Später kommt doch die Angst. Weil ich mich plötzlich an meinen Beruf erinnere und mich fühle wie ein Seefahrer im Mittelalter. So ein Mensch hat geglaubt, dass nach der nächsten Seemeile die Welt zu Ende ist. Und ich fürchte, dass nach dem nächsten Wort die
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