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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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so weit auseinander wie einst Mutter Teresa und die Missionarsstellung.
    Abends sitze ich vor dem Fernseher, ich will ein Interview mit dem Dalai Lama sehen, der sich gerade in den Staaten aufhält. Ich bin zu früh und zappe in ein Programm, das sich » Kinky Records « nennt. Ganz ehrlich, diesmal bin ich gern zu früh. Denn ich werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die folgenden Bilder schockieren könnten. Ich bleibe natürlich, hungriger kann ein Vorspann nicht machen. Und die Warner haben recht, die Bilder schocken, die Pay- TV -Gebühr ist gerechtfertigt: Unter anderem tritt ein Mister Top – passendes Pseudonym – auf und führt sein wahnsinniges, 41 Zentimeter langes Glied vor. Zerknittert sitze ich am Bettrand. Den Amis gelingt einfach alles. Solche Vorgaben holen wir anderen 95 Prozent der männlichen Weltbevölkerung nie ein. Ergriffen blicke ich auf einen Weltrekordanwärter, der uns allen um Längen voraus ist.
    Spätnachts – prime time ist lang vorbei – darf der Dalai Lama auftreten. Larry King von CNN hat ihn eingeladen. Wunderbare Sachen passieren. Die lässige Bescheidenheit des buddhistischen Oberhaupts der Tibeter versöhnt mit der eigenen Durchschnittlichkeit, der genitalen wie der spirituellen. Sogar Kings hemdsärmlige Dämlichkeit kann nichts kaputtmachen. Seine Heiligkeit , so wird der 14. Lama vorgestellt, bewegt sich mit überragender Natürlichkeit, ein blitzgescheiter Liebesapostel, eine Sternstunde im Universum, die erste religiöse Autorität, bei deren Auftreten keine Mastercard-Nummer am unteren Bildrand vorbeiflimmert. Alles, was er sagt, ist kostenlos, nicht mit einem Eisenbahnwaggon voller Dollar zu bezahlen.
    Aber selbst ein Inhaber des Friedensnobelpreises kann die ehernen Gesetze der frei rotierenden Marktwirtschaft nicht aufhalten. Und wäre es nur für fünfundzwanzig Minuten. Da redet der strahlende Mensch von der schwierigen Kunst des Mitgefühls, der Kunst, Wunden zu vergessen und sie zu verzeihen. Redet von den Freuden materieller Mäßigkeit, von der Heiterkeit, die sich in einem ausbreitet, wenn Stillsein und Wunschlosigkeit während der Meditation gelingen.
    Er hat die paar Wörter noch nicht zu Ende gesprochen, da birst der erste Werbeblock dazwischen: » We here in America like it big, we like Chevy Tahoe .« Und zum Sound des grölenden Redneck erscheint ein riesiger Wagen, ganz offensichtlich ein Chevy Tahoe. » On sale now! « Und wer kein Geld hat, das hässliche Getüm jetzt und sofort zu besitzen, der muss sich noch Sekunden gedulden, bis ihm der nächste Werbespot die frohe Kunde ins Wohnzimmer drückt: » Come to the Ohkay Casino and win lots, lots and lots of dollars .« Anschließend wieder Seine Heiligkeit und seine Vorschläge für ein sinnenfrohes Leben. Das ist absurdes Theater live , unheimlich wirklich und wahr.
    Am nächsten Morgen bin ich krank, hingestreckt vom Reiseblues, erledigt von der Mühsal, jeden Tag in die Welt hinausgehen zu müssen, jeden Tag schreiben zu müssen, sprich: jeden Tag die Stoßdämpfer neu zu montieren, die Krücken, die Einlagen, die Rüstung, den Herzschrittmacher. Gestern kaufte ich mir eine Gedichtsammlung des persischen Dichters Rumi. Vor achthundert Jahren wusste er schon: » If your knowledge of fire / has been turned to certainty by words alone / then seek to be cooked by the fire itself / Don’t abide by horrowed certainty / There is no real certainty / There is no real certainty until you burn / If you wish for this / sit down in the fire .« Tapfere Worte, Rumi, aber heute will ich nicht tapfer sein, will nicht im Feuer sitzen, will es so genau nicht wissen.
    Ich schleppe mich ins nächstgelegene Café. Frühstücken. Die erste Fehlentscheidung. Aber immerhin lerne ich, dass es zwei Arten von Fröhlichkeit gibt. Die eine kann einem das Leben retten und die andere kann einen umbringen. Augenblicklich werde ich ermordet. Denn heute hat Bibi Dienst. Sie gehört zu dem erbarmungslosen Schlag von Serviererinnen, die schrill und lebenslänglich lustig und eintausendmal hintereinander friedliebende Kaffeetrinker heimsuchen mit Sätzen wie: » How are you today? « Und: » Don’t we have a great day today? « Und: » It’s even going to be greater this afternoon .« Soviel gute Laune erschöpft zu Tode. Dann lieber eine stumme Beleidigte.
    Um mir den Fangschuss zu verabreichen, schaltet das Weib den Fernseher ein: Good Morning America . Bevor ich das Gesicht, fahl vor Depression, in mein Omelett vergrabe,

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