Im Land der Freien
Sprache aufhört. Erst nach gewisser Zeit fällt mir wieder ein, dass sie endlos ist, endlos rund wie die Erde. Dass nur meine Beharrlichkeit versagt, nie aber die Sprache.
Unendliches Amerika. Es hat Platz für so verschiedene Himmel. Nicht lange hinter San Antonio wird er warm und trocken. Die Aussichten verbessern sich. Für Stunden steht keine Stadt im Weg, nur Blicke auf Wüstensträucher und die Zäune riesiger Ranches, die Männern gehören, die eine Prärie voller Rinder und einen Helikopter besitzen und uneinsehbar weit hinten am Horizont leben.
Ich heile vollständig. Irgendwann sitze ich neben Gilmar, einem Brasilianer aus São Paulo, der in Vancouver lebt und gerade nach El Paso reist. Um dort einen gebrauchten Sattelschlepper zu kaufen, ihn nach Guatemala zu fahren und dort mit Gewinn abzustoßen. So verdient er sein Brot als ambulanter Lastwagenhändler. Ein nobler Berufsstand: Er überlässt mir drei Adressen in drei verschiedenen Ländern. Dennoch befindet er sich seit geraumer Zeit in einer Krise, er will was ganz anderes werden, er will – er zögert, als würden letzte Bedenken ihn noch einmal bremsen – anfangen zu schreiben. Fast heimlich, damit kein Dritter von seinem frivolen Vorhaben erfährt, zieht er ein Buch heraus, das ihm sein neues Handwerk beibringen soll: › How to become a travel writer ‹.
Das hat was typisch Amerikanisches, Mutiges: das alte Lastwagenfahrerleben hinschmeißen und ein neues ausprobieren. Sich nicht für immer von den Möglichkeiten des Abstürzens einschüchtern lassen, sondern springen und den Gedanken aushalten, dass man danebenspringt. Oder nicht danebenspringt und genau da landet, wo man hinwollte. Und nach der Angst das überwältigende Gefühl erntet, dass Mut eines der Geheimnisse des Lebens ist.
Um sechs Uhr dreißig Ankunft bei einem weltrekordlilablauen Morgenlicht in der Hauptstadt von New Mexico, dem vom Schrecken gnadenloser Profitarchitektur unverwüsteten Santa Fe. Hier haben sie sogar ein Gesetz, das zur Schönheit verpflichtet, dazu zwingt, dass alle Häuser in der Innenstadt im Pueblo-Stil errichtet werden. Als Verpflichtung der eigenen Geschichte gegenüber: im Jahr 1610 von den Konquistadoren gegründet, 1846 im Krieg mit den Mexikanern von den Amerikanern erobert und bis heute so geschmackvoll, dass sogar die Fassade des Hilton aussieht wie die Fassade eines Hotels, in dem man eine Nacht verbringen will. Noch außerhalb des Stadtkerns wirken die geheimen Kräfte der Sehnsucht nach Schönheit nach. Selbst die ansonsten so bösartig hässlichen Betonschachteln der Supermarktkette Walgreens scheinen weniger viereckig, weniger kaltblütig.
Vielleicht halluziniere ich, aber auch die Frauen scheinen in dieser Oase inmitten der neu-mexikanischen Wüste schöner als anderswo. Das ist absolut folgerichtig, das muss so sein. Bewusst oder unbewusst suchen die Schönen einen Ort, der ihrem Auftreten entspricht, sie in Szene setzt. Wer möchte schon in Murmansk in Szene gesetzt werden? Das ist ein Naturgesetz. Siehe Paris, Jaipur, Buenos Aires und – auf seine Weise – Manhattan: Je attraktiver eine Stadt, desto größer der Anteil attraktiver Menschen pro Quadratmeter. Zuletzt weiß keiner mehr, wer wen intensiver bereichert: die Bewohnerinnen ihre Stadt oder umgekehrt.
Kurioserweise lese ich in der hiesigen Lokalzeitung eine Nachricht über Marlon Brando, in der darauf hingewiesen wird, dass sich der Schauspieler – obwohl » old, fat and whining « – immer noch drei Millionen Dollar pro Film gutschreiben lässt. Mir fällt auf, dass es in der gesamten Geschichte des Films keine Schauspielerin gibt, die alt, fett und weinerlich drei Millionen Dollar einfordern dürfte. Ist das die Rache der Männer für die Tatsache, dass sie nie so schön, nie so begehrenswert wie Frauen waren? Und nie sein werden?
Santa Fe zählt jeden Nörgler mit seinen Pluspunkten aus. Ein öffentliches Busnetz mit atemberaubend kurzen Intervallen von zwanzig Minuten existiert, zuvorkommende Verrückte verabschieden jeden Fahrgast mit einem hellen » See you later! «, die Farben der Bäume leuchten dem mit Bürgersteigen verwöhnten Fußgänger ins Gesicht, es gibt reinrassige Buchhandlungen ohne Kaugummi, Herrenslips oder Tennisschläger im Angebot. Orte, an denen ein geradezu physisches Bedürfnis ausbricht, zu blättern und zu versinken.
Und es gibt Fathi, den Moslem, der neben der viereckigen, aber eben viereckig schönen Plaza de Santa Fe sein Café Tribes führt
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