Im Land der Freien
höre ich den Ausdruck » upper body blitz «. Das klingt aufregend und ich schaue hin: Im Fit TV wird gerade ein Blitzkrieg angeboten, um den über zehn Jahre vollgefressenen Torso wieder auf Vordermann zu bringen. Als Turnlehrerinnen steht ein Paar betäubend gradlinig gewachsener Frauen zur Verfügung. Sie hopsen auf einer saftgrünen Wiese und werfen bisweilen ihre betäubend schön gearbeiteten Arme in verschiedene Richtungen. Rührend mit anzusehen, wie die Dicken im Raum ruckartig zu essen aufhören und gebannt zuschauen.
Die zwei Dünnen versichern, dass wir bei einer Investition von nur wenigen Minuten an wenigen Tagen so aussehen werden wie alle, die bereits einen knock-out upper body haben. Da ist sie wieder, die Sexyness der englischen Sprache. Ein pyramidales Wort: » knock-out upper body «. Very catchy, very sexy , das Wort und das Bild hinter dem Wort: Wer von uns will keinen Oberkörper haben, der nicht jeden Betrachter umwürfe und in den K. O. triebe?
Widersprüchlich, aber logisch. Gerade die Sprachfaulheit der Amerikaner führte dazu, dass sie auf geniale Weise Formulierungen fanden, erfanden, die auf amüsanteste Weise erheitern: Die nach dem Krieg in Kaiserslautern stationierten Soldaten tauften die Stadt » K-Town «. James Bond – auch in Tomorrow Never Dies als Erotomane unterwegs – wird als » cunnilinguist « beschimpft. Wer sich die Nase reparieren lässt, bekommt einen » nose job « verpasst. Andere jobs betreffen andere Teile des Körpers. Wer intensiv lebt, verfügt über » quality time «. Auf einem Flughafen sah ich in einer Buchhandlung die Abteilung » Light Airplane Reading «. Wer so etwas – die drei Worte, nicht die dort feilgebotene Schrottliteratur – nicht genießen kann, der ist sprachtaub. Das amerikanische Englisch hat etwas Griffiges, etwas Schnelles, ist oft sinnig und sinnlich.
Nach dem Blick auf Fit TV zahle ich, der Wetterbericht für Geschäftsreisende droht. Bibi sei Dank – ihr schulde ich die Entdeckung des Wortes » knock-out upper body « –, jetzt weiß ich, was ich brauche, um den Blues in den Griff zu bekommen: das Lesen.
Ich kaufe einen Stoß Zeitungen und ziehe bei Fathi ein, sein Tribes ist fernsehfrei und still. Der Sufi lächelt nur und lässt mich drei Stunden allein. Aus Erfahrung weiß ich, dass Lesen beinahe so heilend wirkt wie Schreiben. Auf scheinbar unerklärbare Weise wirken bei einem Teil der Menschheit Buchstaben wie Aspirintabletten, in schwerwiegenderen Fällen wie Morphium. Noch unerklärbarer: Selbst das Lesen von traurigen Geschichten heilt. So haben Drogenjunkies und Lesesüchtige zumindest eines gemeinsam: Nach drei Tagen Entzug landen sie auf dem cold turkey . Nichts anderes hat mehr Platz in ihrem Kopf als die Suche nach einem Stoff – weißes Pulver oder weißes Papier –, der sie aussöhnt mit der Welt.
Hier ist die traurigste Story, die ich finde. Jeden, der sie liest, wird sie bereichern: Die Mutter von Dan Eldon, einem der vier Fotografen, die 1993 in Somalia zu Tode gesteinigt wurden, hat ein Buch mit Notizen und Fotos ihres Sohnes veröffentlicht. Dan muss ein interessanter Bursche gewesen sein: auf verschiedenen Kontinenten aufgewachsen, viel gereist, viel gelernt, mit nur 23 Jahren gestorben. Der Kritiker zitiert einen Eintrag, wo der Fotograf die vier häufigsten Gefühle erwähnt, die einen professionellen Reisenden überkommen: » worry, fatigue, joy and loneliness « – Unruhe, Erschöpfung, Freude und Einsamkeit. Die vier Wörter tun weh, so genau sind sie.
Eigentümlich, die herzzerreißende Geschichte wird mir einige Stunden Glück verschaffen. Purer Zufall. Als ich weiterlese, beugt sich ein fremder Mensch über den Zeitungsartikel, den ich ausgeschnitten neben mich gelegt habe, und sagt: » I read that too this morning, how touching .« Als ich aufblicke, denke ich zuerst, dass die Frauen von Santa Fe nicht nur besser aussehen als anderswo, sondern wohl auch mutiger sind. Sich neben den Tisch eines Fremden zu stellen und unter Verwendung des nächstbesten Vorwands zu reden anfangen, das ist noch immer so anders, dass es auffällt.
Außerdem bin ich ein Mann und nur Männer verstehen das schiere Glück, einmal nicht Gefahr zu laufen, sich zu blamieren und in die Wüste geschickt zu werden. Einmal Objekt sein dürfen, einmal nicht die Mühsal auf sich nehmen müssen, fieberhaft nach einem intelligenten Satz Ausschau zu halten, um sich einer begehrenswerten Frau vorzustellen. Einmal die Regeln
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