Im Land der Freien
Murmeln. Alles schon wissen , da alles schon konsumiert: ein paar Tausend Abgeschlachtete, ein paar Tausend Vergewaltigte, ein paar Tausend Ficks, ein paar Tausend Flüche, ein paar Millionen Dialoge zwischen ein paar Hundert frisch gefönter Kretins. Alles Bilder von monumentaler Einsamkeit.
Fragt einer, warum die hiesigen Kinder so gewalttätig sind, so erinnert die Frage an eine andere Frage. Etwa die an einen Alkoholiker, der gerade eine Flasche Whisky konsumiert hat: »Mann, warum bist du so besoffen?«
Ich sehe mir selbst zu, sehe, was für ein trauriges Männchen ich abgebe, meine Lebenszeit killend, mit dem blöden Blick auf einen schwarzen Kasten, unbewusst auf etwas lauernd, was mich bewegen könnte, eine Stunde Leben dafür herzugeben. Abgesehen davon, dass mich nichts bewegt, fällt mir auf, dass diese Stellung – sitzender Mensch auf Couch vor Fernseher – die Missionarsstellung aller trägen Geschöpfe ist. So dröge und ideenlos, wie sie den Geschlechtsverkehr hinter sich bringen, so abwesend und bewusstlos verschleudern sie den Rest ihres Daseins.
Ein befreundeter Sufi aus Pakistan schrieb mir einmal eine orientalische Weisheit: »Neben der edlen Kunst, Dinge zu verrichten, gibt es die edle Kunst, Dinge unverrichtet zu lassen.« Das will ich endlich befolgen und schalte die »Ikone des Satans« aus. Diese drei präzisen Worte habe ich von einem orthodoxen Priester in Russland, den ich vor Jahren traf. Ich widerstehe der Versuchung, nach einem college roommate zu telefonieren, und unternehme für eine Stunde nichts, absolut nichts. Auch nicht lesen, auch nicht schreiben. Nichts tun, das sei, so der Sufi, als würdest du einen Fluss durchqueren, um den nachjagenden Hunden – sprich: dem nachjagenden Unglück – die Fährte abzuschneiden.
Der Heilspruch funktioniert auf wundersame Weise. Den ganzen restlichen Abend beschenkt mich Las Vegas. Während sie im nahen New York Casino einen elektrischen Stuhl installiert haben, um sich am Nachstellen einer Hinrichtung zu ergötzen, verpflichteten sie im Circus Circus Hotel den genialen Grigori Popowitsch. Atemberaubend, was er alles in die Luft wirft und dabei gleichzeitig – mit äußerster Leichtigkeit – vorführt, dass er ein Weltmeister-Jongleur ist. Wie ich Grigori und alle wie ihn – die nachfolgenden Seiltänzer, die Feuerfresser und Akrobaten – beneide. Weil sie jedem Freude machen und niemanden demütigen. Ein Vergnügen, das keiner missverstehen kann, das keiner erklären muss, das so umweglos Leichtsinn und Heiterkeit verbreitet.
Wie anders Schreiben. Da gibt es fast immer Verwundete. Weil so oft einer dagegen ist, sich bloßgestellt fühlt, weil Schreiben eben zurichtet und weh tut, das Messer zieht und mitten hinein in die Wunde fährt.
Das Glück lässt mich nicht los, auch nicht nach Grigori. In einen der Geldautomaten im Hotel schiebe ich meine Kreditkarte und bekomme tatsächlich Cash. Wenn auch erst über einen befremdlichen Umweg: » Go to the closest cashier « steht auf dem Voucher, den die Maschine ausspuckt. Also gehe ich die fünf Schritte zum nächsten Kassierer. Und der junge Mann hinter den Stahlstreben schiebt mir ein Stempelkissen hin, damit ich den rechten Daumen rausstrecke und meinen Fingerabdruck auf dem Empfangsformular hinterlasse. » Where money walks, bullshit talks «, stänkern die armen Schlucker. Aber dass sie hier davon ausgehen, dass ein Geldbesitzer das Alphabet nicht beherrscht, ist heftig.
Spät nach Mitternacht – die Stadt ist immer offen, das letzte Mal schloss sie (unter Protest) am Tag der Beerdigung von John F. Kennedy – kommen ein paar der schönsten Momente dieser Reise. Ich flaniere noch einmal über den Strip und stehe plötzlich vor der hellweiß getünchten Candlelight Wedding Chapel , einer der unzählig vielen schmucken Kapellen vor Ort. Las Vegas ist ein tiefreligiöser Fleck, hier verfügen sie über mehr Kirchen pro Einwohner als irgendwo sonst auf Gottes Erden. Als mich die Managerin Mrs. Lynette unter dem Hinweis anspricht, dass hier so außergewöhnliche Persönlichkeiten wie Barry White, Michael Caine und Patty Duke sich das Jawort zur christlichen Einehe gaben, dass sogar CBS und CNN vom Zauber im Kerzenschein-Kirchlein zeugten, beschließe ich kurzfristig, an der Narrenposse teilzunehmen: »Ja, ich würde hier auch gerne heiraten.«
Las Vegas bietet dafür alle Vorteile. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bundesstaaten wird kein Bluttest verlangt, muss keine Wartezeit
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