Im Land der Freien
Vollgas-Bimbo sitzt am Steuer, kein stieres Rasen treibt den Fahrer, 55 Meilen gelten als Durchschnittsgeschwindigkeit. Da bleibt Zeit, die Dinge wahrzunehmen, an denen man vorbeizieht.
Im Januar 1957 kaufte die Transportgesellschaft einen frisch geborenen Windhundwelpen. Als Werbegag. Schon vier Monate später trat der Hund in der Steve Allen Show auf: als »Lady Greyhound«. Dass es das Busunternehmen nie zur Windgeschwindigkeit schaffte, dafür will man ewig dankbar sein. Der edel aussehende Windhund sollte eher Zuverlässigkeit, Kraft und Eleganz ausstrahlen.
Zehn Jahre hielt der Gag. Die Lady eröffnete – Bänder durchbeißend – immer wieder neue Haltestellen, ließ sich bei Wohltätigkeitsveranstaltungen zum honorary dog küren, reichte frisch Operierten die Pfote und war der Superstar der Weltausstellung von 1964 in New York.
Der Höhepunkt ihres Hundelebens kam jedoch, als eine 38 000 Mitglieder starke Organisation namens SINA – » Society for Indecency to Naked Animals « – die Nacktheit von Lady Greyhound und, noch verhängnisvoller, die Nacktheit jener Tausende von Hunden entdeckte, die auf den Seiten der Busse klebten. Fairerweise muss erwähnt werden, dass die Statuten von SINA nur dann in Kraft traten, wenn das unbekleidete Tier höher als zehn und länger als fünfzehn Zentimeter war. Sicher aus der keuschen, so logischen Überlegung heraus, dass bei solchen Größenverhältnissen die Geschlechtsteile unsichtbar blieben. Dass das Aufjaulen und Kläffen der 38 000 nicht zur Verhüllung der anstößigen Körpergegenden führte, sondern nachhaltig der Publicity von Greyhound diente, diese einfache Lehre des Kapitalismus begriffen die erregten Empörer erst hinterher.
Zwischenaufenthalt in Los Angeles. Ich kenne die Stadt und habe mir beim letzten Besuch geschworen, sie nur noch in Begleitung von zwei Erwachsenen zu betreten – einem Arzt und einem Psychiater. Um im Fall einer schlagartig auf mich niedergehenden Schwermut ausreichend versorgt zu werden. Also bleibe ich in der Nähe des Terminals, suche eine Cafeteria und finde den unvergleichlichen Tim Byrnes. Eine grausig lustige Stunde lang wird er mich unterhalten. Denn Tim war einst Leichenwäscher und ist gerade dabei umzusatteln. Erster Schritt: noch heute Nachmittag nach Phoenix zu fahren. Voller Verve erzählt er von seinen neuen Plänen.
Vor Wochen las er in der Zeitung, dass die Hauptstadt von Arizona eine beachtliche Summe bereitgestellt habe, um Leute zu engagieren, die sich um das Aufräumen von Tatorten – auf amerikanisch » crime scene clean-up « – kümmern. Das sei eine Art ambulantes Reinigungsunternehmen, das nach der Spurensicherung der Polizei am Ort des Verbrechens aufräumt, um die blutüberschwemmten Sofas, die nicht zur Täterfindung notwendigen Leichenteile, zertrümmerte Geschirrschränke und ein oder zwei oder drei weggeblasene Hirnschalen zusammenzuschaufeln. Dann schrubben und saugen. Sauber verpackt gehe es schließlich zu einer speziell dafür vorgesehenen Müllhalde zum Abladen und Verbrennen der Objekte.
Vielleicht, so Tim, könnte er da mitmachen. Wenn nicht, wird er sein eigenes Unternehmen gründen. Im Leichenanfassen kenne er sich aus und die Verdienstmöglichkeiten seien entschieden besser, bis zu 200 Dollar die Stunde. Er kramt den Artikel heraus, ich soll ihn lesen. Dass Amerika augenblicklich nicht mehr ganz so viele Erschossene, Erstochene und Gemeuchelte produziert wie in früheren Jahren, scheint ihn nicht zu beunruhigen. Er zitiert einen gewissen Mister Lagman, der bereits erfolgreich mit seiner Spezialausrüstung – Besen, Turbo-Staubsauger, Gummihandschuhe – von Blutbad zu Blutbad eilt: »Ich mache mir keine Sorgen. Das Geschäft boomt: Selbstmord, da liegen heute die Zuwachsraten.« Tapferer, unverwüstlicher Tim.
Noch fünf Stunden bis San Francisco. Wäre ich Diktator, würde ich sechzig Minuten Zwangsmeditation einführen. Und hinterher sechzig Minuten Zwangsarbeit, in der alle Beschallungsgeräte öffentlich zerhackt würden. Diese Notlösung kommt mir, als ich im Bus neben einem offensichtlich Gehörlosen sitze, dem sein Walkman einen Liedtext in die Ohren trümmert, der aus nur einer Zeile besteht und dessen Schlichtheit wohl jeden Mithörer dazu veranlassen würde, Sänger und Walkman-Besitzer eine warme Decke überzuwerfen. Damit dieser musikalische Rinderwahn zur Ruhe kommt. Dennoch, nach dem 53. Mal » I can’t see the light « ziehe ich um. Ich spüre jetzt, dass mein
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