Im Land der gefiederten Schlange
von denen Onkel Christoph gesagt hatte, sie erinnerten ihn an ein Gedicht von Goethe:
Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer vom Meere strahlt.
Sie stand im Raum und war jeder Fähigkeit beraubt. Hellwach und dennoch wie in einem Traum gefangen, in dem man nicht selbst entschied, was man tat oder ließ. Benito schob ihr einen Stuhl hin und half ihr, sich zu setzen. »Ich gehe jetzt«, sagte er.
Das brach den Bann des Traums. »Bitte bleib hier.«
Aus der Ecke mit dem Lehnstuhl drang die Stimme der Frau. »Sind Sie zurück, Don Benito? Ist der Krieg zu Ende? Ich wünsche Ihnen ein langes Leben in Frieden. Bleiben Sie bei uns. Wenn mir die Stimme bricht, müssen Sie meiner Katharina den Rest erzählen.«
Meiner Katharina.
»Sehr wohl«, sagte Benito, der vielleicht doch zu lange Soldat gewesen war, und trat zurück an die Wand.
Katharina und die Frau starrten einander an. Ob sie das sieht?, fragte sich Katharina, ob sie sieht, dass ich ihre Augen habe?
»Du bist so schön«, sagte die Frau. »Marthe hat mir Zeichnungen von dir geschickt, aber ich wusste trotzdem nicht, dass du so schön bist. Du hast Vicentes Haar.«
Katharina packte eine der schwarzen Strähnen und sah sie an. Sein Pate Vicente, den er vergöttert hat, hörte sie Carmen sagen. Das war der Name ihres Vaters.
Vicente.
Sie hatte sein Haar.
Gleich würde die Frau den Satz aussprechen, den sie nicht hören wollte, weil etwas daran falsch war.
Ich bin deine Mutter.
Sie wollte ihr sagen, dass sie es wusste, aber zu der Frau zu sprechen war unvorstellbar. Zugleich fielen andere Teile an ihren Platz. Sie griff wieder nach ihrem Haar und dachte an Benitos Haar im Nacken, das sie im Lazarettzelt gestreichelt hatte. Es war so glänzend, unmöglich in Wellen zu legen und so schwarz wie ihres. Sie starrte auf ihr Haar und dann in die Augen der Frau. Ich bin eine wie Martina, benannt nach Martin, dem ersten der vermischten Mexikaner. Ich bin eine aus zwei Hälften. Eine halbe Nahua.
»Ich bin Marthes Schwester«, sagte die Frau. »Christophs Schwester. Ich war Peters Verlobte. Geht es Marthe, Christoph und Peter gut?«
»Ich glaub«, flüsterte Katharina und sehnte sich nach Marthe, Christoph und Peter. »Ich glaub.«
»Dass Peter und ich verlobt werden sollten, hat die Familie entschieden«, sagte die Frau. »Onkel Sievert war bankrott wegen der Silberbergwerke, und dann wurden wir ihm übers Meer geschickt und mussten durchgefüttert werden. Die Lutenburgs waren reich, mit ihrem Geld hätten sie Onkel Sievert retten können. Onkel Sievert hatte keine Tochter – aber plötzlich hatte er mich. Ich habe diese Worte eingeübt, weißt du das? Wenn man so lange nicht spricht, zersplittert einem die Sprache. Ich habe mir diese Worte aufgeschrieben und sie eingeübt für den Tag, an dem du kommst. Ich wollte, dass du uns alle verstehst. Verstehst du mich?«
Katharina nickte.
»Onkel Sievert starb«, fuhr die Frau fort. »An derselben Krankheit, an der jetzt ich sterbe, an etwas, das im Magen sitzt und frisst. Deshalb hat er die Geschäfte Kurt übertragen. Kurt war sein ältester Sohn, er hatte eine Frau und zwei kleine Kinder.«
Onkel Fietes Bruder. Stefans und Helenes Vater. Tante Traudes Mann.
»Kurt starrte mir nach, wenn ich im Haus umherging. Aber er brauchte Geld, um seine Familie vor Not zu bewahren. Er konnte Frauen nicht widerstehen, doch auf mich übte er Verzicht – ich sollte Peter Lutenburg heiraten, um die Familie zu retten.«
Die Frau hustete und rang nach Atem. Benito ging zum Tisch, füllte aus einem Krug einen Becher mit Wasser und gab ihr zu trinken. Er musste ihr den Becher an die Lippen halten, so schwach waren ihre Hände. Als der Becher halb leer war, brachte er den Rest Katharina. Sie hob ihn an die Lippen und konnte nicht trinken, weil der Gedanke, dass die Lippen der Frau dort gelegen hatten, überwältigend war.
»Peter war der netteste Mann, den man sich denken konnte«, fuhr die Frau fort. »Er behandelte mich wie einen kostbaren Schatz, und er liebte mich sehr. Don Benito, dürfen wir Sie noch einmal bemühen? Können Sie dies hier meiner Katharina bringen? Ich glaube, wir beide wagen das noch nicht – nah beieinander zu sein.«
Die Frau löste sich etwas vom Hals. Benito ging, nahm es ihr aus den zitternden Händen und brachte es Katharina. Es war eine schmale Kette mit einem Amulett in Form einer Taube.
»Das hat Peter mir geschenkt«, sagte die Frau. »Ich war seine Taube. Ich hätte gern, dass du es
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